Bonita Avenue (German Edition)
Grübeln über das, was er gesehen hatte. Auf dem Weg zum Flughafen Schiphol stellte er sich Fragen, lächerliche Fragen (waren sie gleich groß? Waren sie gleich alt? Gleich schlank?), woraufhin er sich zur Ordnung rief (es kann nicht sein, es wäre ein zu großer Zufall, das ist es doch, was Psychiater unter Paranoia verstehen), dann einigermaßen beruhigt eincheckte und ohne nennenswerte Hirngespinste die Bestseller im Buch- und Zeitschriftenladen in die Hand nahm und wieder hinlegte, um sich später beim Einsteigen dabei zu erwischen, dass er sich noch lächerlichere Fragen stellte (ist sie dazu überhaupt in der Lage? Steckt das etwa in ihr? In ihren Genen?) – ein permanenter Gezeitenstrom, Panik und Ruhe, Panik und Ruhe, der ihm nun schon seit drei Tagen zu schaffen macht.
Das vierzigjährige Tubantia-Jubiläum war so verlaufen, wie derartige öffentliche Ereignisse immer über ihn hinwegdonnerten: Für ihn war es ein tagelanger Traum, und wie in einem Traum gab es keinerlei Gelegenheit, zurückzublicken oder nach vorn zu schauen. Der Smalltalk mit vier Ehrendoktoren samt Gattinnen, das Umschreiben, Einstudieren und Halten seiner Festrede über Nanotechnologie, ein etwas blasses Thema, dann das Frühstücken, Mittagessen und Dinieren mit seinen Gästen, die pausenlosen Gespräche, das elende Geschwätz, irgendwann würde er während einer Rede tot umfallen.
Am Donnerstagnachmittag, beim abschließenden Empfang, war es schiefgegangen. Nachdem er den vier Koryphäen in der Jacobuskirche die Tubantiamedaillen umgehängt hatte, zog der ganze Zirkus ins Theater von Enschede um. Im Foyer stiegen er, Tineke und die Ehrendoktoren mit ihren Gattinnen auf das schwarzsamtene Podest, um sich bereitwillig von den Hunderten von rumorenden Gästen feiern zu lassen, die sich von silbernen Tabletts Weingläser und exquisite Häppchen schnappten oder sich gleich in die entmutigend lange Schlange stellten. Bestimmt drei Stunden stand er da, schüttelte Hände, gab Geistvolles von sich, auf seinen Lackschuhen spiegelte sich ein langer Schweif Geduld.
Nach knapp einer Stunde entdeckte er Wijn. Menno Wijn, seinen Ex-Schwager und -Trainingspartner, der mit Kopf und Schultern die zahlreichen Studenten und fast ausnahmslos in ihre Toga gekleideten Professoren überragte, anfangs am Rand stehend und sich, ein Glas Mineralwasser in der Hand, unbehaglich umblickend, offenbar drauf und dran, die Veranstaltung zu verlassen. Als Sigerius fünf Minuten später wieder nach ihm Ausschau hielt, stand er wie der Golem in der Schlange. «Guck mal auf zwei Uhr», sagte er zu Tineke. Sie ließ den Arm einer befreundeten Professorenfrau aus ihrer molligen Hand gleiten und wandte sich ihm zu. «Links», sagte er. Leicht amüsiert wanderte ihr Blick an den Wartenden entlang und erstarrte. «Verdammt.» Sie zog die Schultern hoch und schüttelte ihre frisch geschnittenen Haare, die nach Zigaretten und Tannennadeln rochen.
Wijn schaute vor sich hin, als säße er im Wartezimmer eines Zahnarztes. Bevor er aufgetaucht war, hatte das Foyer einen bunten Anblick geboten, so viele verschiedene Menschen, so viele Nationalitäten, doch seit der Anwesenheit seines Ex-Schwagers fand Sigerius, dass alle Akademiker einander ähnlich sahen. Früher, als Wijn und er in den Zwanzigern gewesen waren, da hatte er ein grobes, aber rötlich-gesundes Gesicht gehabt, das immer lachte, am liebsten und am lautesten über die Fehler anderer, bis die Fehler immer näher rückten und anfingen, ihn zu umzingeln. Die Fehler auf Fehler häufenden anderen, das waren seine Schwester Margriet und Wilbert, vor allem aber war es er, Siem Sigerius, der Verräter, der Margriet in den Abgrund gestürzt hatte. Fand Wijn. Was wollte er hier? Er hatte Wijn nicht eingeladen, er musste irgendwo von dem Empfang gelesen haben. War er nur deswegen aus Culemborg hergekommen?
Während Sigerius gepuderte Damenwangen küsste und Komplimente entgegennahm, spürte er, wie der Bruder seiner verstorbenen Ex-Frau Boden gutmachte. Unmut und Groll strömten ins Foyer wie ein Gas. Das alles war verdammt noch mal ein Vierteljahrhundert her! Während der ersten Monate nach der Scheidung von Margriet hatte sein ehemaliger Kumpel ihn geschnitten, doch nachdem Margriet und Wilbert in die Dachwohnung über Wijns Culemborger Sportschule gezogen waren, war die Atmosphäre grimmiger geworden. Feindlich. Jahrelang ließ Margriet ihren soliden, aber wütenden Bruder die Kastanien aus dem Feuer holen, Schwesterchen
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