Bonita Avenue (German Edition)
brauchte Geld, Schwesterchen musste zum Spirituosengeschäft. Und Wijn, sehr bald schon Vermieter, Anwalt und Pflegevater in einer Person, machte ein gesalzenes Telefongespräch mehr oder weniger nichts aus. Sigerius wohnte mit Tineke und den Mädchen in Amerika, als um Wilberts Geburtstag herum ein Umschlag in ihrem Briefkasten landete. Darin steckten eine Glückwunschkarte, auf der «Gratulation zu deinem Sohn» stand, sowie ein getipptes Blatt mit Zahlungsaufforderungen: Rechnungen von Glasern, Bußgelder, Honorare für Arztbesuche und Konsultationen bei einem Jugendpsychiater, allem Möglichen, und am unteren Rand die Bankverbindung der Sportschule Menno Wijn. Das war der Auftakt zu einigen Telefongesprächen pro Jahr, R-Gesprächen natürlich, Vorwurfstiraden, in denen Wijn ihn in seiner derben Sprache darüber informierte, was der «Rotzlöffel» nun schon wieder ausgefressen hatte, von welcher Schule er warum geflogen war und dass der «Mistkerl» gemahlene Hustenbonbons als Haschisch verscherbelt hatte, woraufhin er, Menno, die «Schwachköpfe», die ihr Geld zurückhaben wollten, aus der Sportschule hatte werfen müssen, über Kirmesschlägereien und Ladendiebstähle – wann kommst du wieder mal nach Holland, Alter? Das ganze Amerika stank Menno gewaltig. Wenn Sigerius von sich aus anrief, war es genau anders herum, dann schloss Wijn ihn aus, ließ den Abtrünnigen auf abgefeimte Weise spüren, dass er nicht mehr dazugehörte, und berichtete ihm in langen Monologen genüsslich, wie sehr Wilbert inzwischen seinem pflichtbewussten Onkel ähnelte. «Irgendwie ist er auch ein prima Kerl, jetzt hat er vierundzwanzig Kanarienvögel oben bei sich unterm Dach. Findet er irgendwie schön. Dazu noch Ratten, Hamster, fast wie im Zoo.»
Er hatte sich das gefallen lassen. Klar, dass er sich Sorgen machte. Du bist jetzt hier, sagte Tineke. Wir sind in Kalifornien. Erst als Margriet starb, hatte ihr Bruder damit aufgehört. Seitdem hatten sie hin und wieder miteinander telefoniert, Menno ächzend und stöhnend in seiner Rolle als Vormund, er als desillusionierter Vater, der keine Lust mehr hatte, Alimente zu zahlen. Geschäftsmäßige Gespräche, aber in der Leitung, wie ein elektrischer Schlummer, der Groll von einst.
Und da war er. Sein Ex-Schwager stieg im Gegenlicht, das durch die hohen Theaterfenster einfiel, die breiten Stufen des Podests hinauf und blieb vor ihm stehen. Man erwartete einen Paketzettel in seiner Hand oder fragte sich, wessen Chauffeur er war, warum der Mann seinem Chef wohl hinterherlief. Kerzengerade, die Arme leicht vom grobschlächtigen Körper abgespreizt, das Körpergewicht auf die Fußballen verlagert, genau so, wie er früher die Judomatte betreten hatte: Hier bin ich, versuch’s, wenn du dich traust. Sie gaben einander nicht die Hand.
«Menno», sagte Sigerius.
Wijn verzog das Kinn. «Es geht dir gut, wie ich sehe», sagte er mit exakt demselben Akzent, der schon vierzig Jahre zuvor im Utrechter Stadtviertel Wijk C gesprochen wurde. «Ich war in der Gegend. Ich wollte dir sagen, dein Sohn ist frei.»
Sigerius räusperte sich. «Was sagst du da?»
«Strafzeitverkürzung. Wegen guter Führung. Er ist wieder draußen.»
Manchmal hat Sprache eine physische Wirkung auf ihn, eiskaltes Wasser, das sich nach metertiefem Sturz über ihn ergießt. «Nein, so was», sagte er gedämpft. «Das sind ja Neuigkeiten. Schlechte Neuigkeiten.»
Wijn kratzte an einem fünfcentgroßen Stück Schorf auf seiner Wange, zweifellos das Überbleibsel einer Brandblase, die er sich beim Rutschen über eine Judomatte zugezogen hatte – eine Geste der Unsicherheit, deretwegen er für einen Moment seiner toten Schwester ähnlich sah. An seinem Mittelfinger fehlte der Nagel. Ein blinder Finger.
«Ich dachte, ich sag es dir lieber. Und ich sage dir auch, dass ich mich nicht mehr um ihn kümmern werde.»
«Er sollte doch bis 2002 einsitzen.» Das sagte Tineke; mit Augen, die Revolverläufen ähnelten, sah sie Wijn an, doch der ignorierte sie, wie er sie schon seit fünfundzwanzig Jahren ignorierte.
«Wo wird er wohnen?», fragte Sigerius.
«Keine Ahnung. Ist mir aber auch egal.»
Sie sahen einander schweigend an, der Rektor und der Sportschulbesitzer. Zwei Männer in den Fünfzigern, die jahrelang dreimal die Woche zusammen duschen gegangen waren, nachdem sie in den Dōjōs der bevölkerungsreichen Randstad ihren Schweiß vermischt hatten. Es hatte nichts genutzt. Plötzlich, ohne jeden Anlass, langte Wijn mit
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