Bonita Avenue (German Edition)
einen zweiten Beutel Ibuprofen in den Mund und schluckte das Pulver mit Spucke runter.
Plötzlich kamen sie en masse , die Fragen, dumme und sehr dumme durcheinander. Wie ist er reingekommen? Hatte er einen Schlüssel? Warum gerade hier? Hatte er den Schlüssel bereits, als wir aus dem Urlaub wiederkamen? Hatte ich ein Messer? Oder eine Schere? Ich konnte ihn doch nicht so hängen lassen. Warum hat er das getan? Wird er bereits vermisst? Von Mama? Im Ministerium? Die Fliegen mussten verschwinden. Bin ich daran schuld? Ich musste ihn aufs Bett legen. Das Seil runter von seinem Hals. Die Polizei verständigen? Warum hast du mich nicht angerufen? Ich musste in den Ort und eine Polizeistation suchen. Ich musste in Val-d’Isère anrufen.
Aber ich stand nicht auf, ich blieb sitzen, wo ich saß. «Wenn du es wirklich so schwergehabt hast, Papa», sagte ich, «warum hast du dich dann nicht gemeldet?»
Mit Fingern, die ich kaum bewegen konnte, öffnete ich den Umschlag. Es steckte tatsächlich eine Karte darin, von einem alten Plakat von Sainte Maxime, ich hatte sie im Sommer gekauft und dann liegengelassen, Jugendstil mit einer Palme und Strand. Auf die Rückseite war etwas mit Kuli geschrieben, durch meine Tränen hindurch erkannte ich seine überraschend kindliche Handschrift. Anstatt zu lesen, was er geschrieben hatte, zerriss ich die Karte und warf die Schnipsel über Bord.
21
Stunden später überquert er bei Venlo die Maas. An den Rändern des graphitschwarzen Wassers treiben große Eisschollen, ein langer Lastkahn mit beigefarbenen Sandhaufen darauf hält sich genau in der Mitte. An den beiden mäandernden Ufern sieht er kleinstädtische Bebauung, in der Tausende von Familien in grauem Dezemberlicht erwachen, die soundsovielte Nacht hintereinander ist die Schneedecke höher geworden. Aarons Eltern – wohnten die nicht in Venlo? Er hat sie einmal kennengelernt, im Haus ihres Sohnes. Besonnene Menschen mit besonnenen Anschauungen. Er muss in Val-d’Isère anrufen, er hat versprochen anzurufen, bevor er losfährt. Eine Nachricht von einem besonnenen Ehemann mit besonnenen Anschauungen. Hauptsache, es friert weiterhin. Er lässt das Fenster der hinteren Wagentür weiter herunter.
Auspuffgase dringen ins Innere des Audi, der morgendliche Berufsverkehr hat begonnen, der Gütertransport nimmt immer noch zu, schwere Reifen zischen durch braunen Matsch aus Schnee und Salz. Schon seit Duisburg fährt er im Schneckentempo hinter einem italienischen Sattelschlepper her, doch noch immer ist es relativ früh. Seine Skier liegen auf dem flachgelegten Beifahrersitz, weil er in der Nacht keine Energie mehr hatte, den Dachkoffer zu montieren, die Reisetaschen auf dem Rücksitz hat er mit ungebügelten Hosen und Hemden vollgestopft. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass die Kleider, die er anhat – ein Pullover aus Lammwolle mit Mottenlöchern, eine zweifelhafte Jeans und Wanderschuhe –, ziemlich atypisch für ihn sind; er sieht, um das Mindeste zu sagen, bemerkenswert aus.
Im Osten dämmert der Tag, der aschgraue Morgenhimmel scheint die Bergbaugegend, auf die er zufährt, bleiern anzukündigen. Nicht daran denken. Offenbar ist das Bild in seinem Gedächtnis gleich an mehreren Stellen abgespeichert, aus allen möglichen Winkeln und Löchern purzelt es ganz unerwartet auf seine Netzhaut. Nimm dir in Frankreich ein Hotel. Mit aller Macht stellt er sich ein Hotelbett in Metz oder Nancy vor, in dem er ein paar Stunden schlafen kann. Um sich für die Normalität in Val-d’Isère zu präparieren. Ein geduschter Mann, der seinen Gastgebern die gebührende Aufmerksamkeit entgegenbringt. Ach, jetzt ein paar heilsame Stunden in einem Hotelzimmer. Er fährt an Geleen vorbei; an der ersten Tankstelle, die er sieht, hält er an. Er tankt den Wagen voll, wischt den Schnee von der Frontscheibe. Drinnen, in der Schlange an der Kasse, spreizt er die Gliedmaßen, um so viel Wärme wie möglich aufzunehmen. Seltsam steht er da in der Schlange, halb zur Seite gewandt, keine Sekunde lässt er seinen Audi aus den Augen. Er kauft Kaugummi und steckt sich drei davon in den Mund.
Nur in die oberen Lungenteile atmend, passiert er die belgische Grenze und nickt dabei zwei belgischen Zollbeamten, die miteinander im Gespräch sind, zu. Er hätte keinen Rum trinken sollen. Sobald er aus ihrem Blickfeld ist, tritt er kräftig aufs Gas. Seit etwa einer Stunde verspürt er eine alarmierende, unbekannte Anspannung, eine physische Störung seiner Nerven,
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