Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
Vom Netzwerk:
cremefarbenen Teppichboden lag. Faszinierend, die Hundertstelsekunde, der Bruchteil einer Hundertstelsekunde, in dem man vom Nichts-Vermutenden zum Vermutenden wird. Mit Neuronengeschwindigkeit schickt dein Gehirn SOS-Meldungen an alle Teile deines Körpers, an die Muskeln, die Schweißdrüsen, das Herz, die Lungen – mein Atem stockte. Mit den Augen folgte ich dem Lauf, stromaufwärts: Die Jacke – es war eine dicke rote Jacke – steckte zwischen Rahmen und Milchglas der Badezimmertür, sodass die einen Spaltbreit offen stand. Sie gehörte nicht dorthin. Ich starrte die Jacke an, versteinert. Ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr lang lag ich so, den Blick auf die Jacke gerichtet – und dann stand ich langsam auf.
    Die Kopfschmerzen waren weg, so blutleer war mein Gehirn. Jemand versteckte sich im Badezimmer. Ein Junkie, der hier Weihnachten feiern wollte. Ein Serienmörder, der hier Weihnachten feiern wollte. Zwei lautlose Schritte, und ich stand bei der Tür und zog sie weiter auf. Derselbe schreckliche Gestank sprang mich an wie ein Affe. Für ein Boot von knapp zwanzig Metern Länge war das Badezimmer riesig, ein Überfluss, der dem Hang der Neureichen zum Luxus geschuldet war: eine wandhängende Toilette, zwei Waschbecken, eine Wanne, eine wasserdichte Duschkabine, deren gläserne Schiebetür, wie ich sogleich bemerkte, offen stand.
    Im nächsten Moment waren da überall Fliegen – Hunderte metallisch funkelnder Fliegen, eine verseuchte Wolke, die aufflog und sich wie auf Kommando wieder senkte. Ich hielt mir die Nase zu und machte zwei Schritte. Die Fliegen sogen sich an einem Körper fest, der an einem orangefarbenen Nylonstrick hing, Tauwerk, mit dem wir dieses Schiff festzurrten. Er war bekleidet, der Rumpf steckte wie eine überreife Frucht in einem Pullover aus Lammwolle – kurz vor dem Platzen offenbar. Aus Wanderschuhen mit dicken Schnürsenkeln quollen die Unterschenkel: dick, faulig, feucht. In der Ecke der mit dunkler Nässe verschmierten Duschkabine lag ein umgestoßener Eimer. Der Kopf – es war sein Kopf. Der Strick, der mit einem formidablen Knoten am Scharnier des offen stehenden Duschfensters befestigt war, hatte es verzogen; in einem sonderbaren Winkel ragte es auf seinen Nacken zu. Das Gesicht –
    Ich schluckte das Erbrochene hinunter. Abgesehen davon, dass sein Gesicht eine blaugrüne Färbung hatte, war es aufgedunsen, die Zunge hing aus einem verzerrten Mund. Auf dem Kinn befand sich eine großflächige Kruste. Das linke Auge war geschlossen, das rechte nicht; es quoll hervor. War mehr außerhalb der Augenhöhle als darin. Es starrte, als wäre in ihm alle Todesangst, die ein Mensch empfinden kann, versammelt.
    Ich kotzte, zu plötzlich, um es noch bis zur Toilette zu schaffen. Mein Mageninhalt klatschte zwischen Duschkabine und WC auf die Kunststofffliesen. Ich ging in die Hocke, übergab mich noch zweimal und stand auf. Mein Kopf. Mein Herz pochte in meinem Schädel. Ich wandte mich den Waschbecken zu und drehte einen Hahn auf.
    «Nicht weinen, verdammt. Nicht weinen.»
    Das Wasser blieb kalt. Ich wusch Mund und Gesicht. Ich starrte in den Abfluss. Papier, da ragte ein Blatt aus seiner Brusttasche. Hatte ich das richtig gesehen? Ein Umschlag? Eine Serviette?
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und drehte mich um. Ich machte einen Schritt in Richtung Dusche. Ohne in das Gesicht zu sehen, griff ich nach der Brusttasche, stieß erst gegen die leblose Brust und spürte die träge Schwere, zog erschrocken die Hand zurück. Laut atmend hielt ich mich am gläsernen Türrahmen fest. «Was machst du nur, Papa.» Dann packte ich die Leiche bei den Hüften und klemmte sie fest.
     
    Es war tatsächlich ein Umschlag. Ich nahm ihn mit aus dem Badezimmer, ging durchs Schlafzimmer, nach oben, an Deck. Im Ruderhaus setzte ich mich auf die Bank und holte Luft. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Weit draußen im Wasser, auf der Grenze zwischen Hafen und Ozean, lag eine rote Boje, zu der ich hinübersah. Erst als mir kalt wurde – nach einer halben Stunde, nach einer Stunde? –, schaute ich auf meine Hand, die immer noch den Umschlag hielt. Er hatte das übliche Format, als steckte eine Ansichtskarte darin. Mein Bauch kam mir schwer vor. Ich probierte, den Umschlag aufzureißen, aber meine Finger zitterten zu sehr. Und mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Ich legte den Umschlag auf den kleinen Tisch und stand auf. Warum Selbstmord? Wo war der Kämpfer geblieben? Ich kippte mir

Weitere Kostenlose Bücher