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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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könnten auch sechs Jahre sein. Er lässt das Telefon auf seinen Schoß sinken.
    Merkwürdigerweise war er schon ein paarmal mit knirschenden Schritten zum Audi neben dem Haus gegangen, zuerst mit der Reisetasche, dann mit dem Laptop und der Aktentasche, hatte sich im Licht, das aus dem Wintergarten auf die sanft ionisierende Schneedecke fiel, vorsichtig einen Weg gebahnt. Er versucht, sich an seine seelische Verfassung zu diesem Zeitpunkt zu erinnern, an die erschöpfungsbedingte Nervosität, mit der er das Bauernhaus einer letzten Kontrolle auf Blutspuren und andere Unregelmäßigkeiten unterzogen hatte und schließlich mit den Skiern unter dem Arm in die Waschküche gegangen war. Eine von verhaltenem Optimismus genährte Erleichterung? Er schaltete die Außenlampe ein – dann erst? – und sah im gelben Licht die ganze Terrasse aufleuchten. Der Schneefall war stärker geworden, er öffnete die Tür der Waschküche und trat ins Freie. Vom Reetdach und aus der Krone der großen Kastanie staubte weißer Puder. Während der klirrend kalte Wind durch seine Kleider drang, betrachtete er die Spur, die seine Füße parallel zum Wintergarten hinterlassen hatten, jetzt erst bemerkte er eine schmalere Abzweigung in den Garten. Er folgte den leicht zugeschneiten Fußabdrücken mit den Augen, sie führten zu einer kleinen Erhebung am Ende der Terrasse, etwa sechs Meter von ihm entfernt. Da lag was. Ein schneebedeckter länglicher Buckel, ungefähr an der Stelle, wo die jetzt unsichtbaren Terrassenplatten in Rasen übergingen. Seine Skier glitten ihm aus den Fingern, der Schnee dämpfte das Geräusch. Da lag er. Verdammt. Er machte einen Schritt nach vorn und schaute angestrengt. Wilbert lag da. Auf dem Rücken, der gebrochene Arm wölbte sich unter der Pilotenjacke. Der Schnee begann, seine Kleidung in Besitz zu nehmen, die Beine waren leicht gespreizt, die Füße nach außen gedreht, die Schuhspitzen weiß. Der Kopf, sonderbar nach hinten geknickt, lag zum Bauernhaus hin. Er konnte das lädierte Gesicht sehen, das linke Auge stand einen Spaltbreit offen. Die Nase, stellte er mit verwundertem Schrecken fest, stieß Kondenswölkchen aus.
     
    Die Erinnerung an dieses Gesicht. Er drückt auf die eitrige Wunde an seinem Kinn, schaut sich um. Denk an etwas anderes, verdammt, denk an … Joni ? Schwer atmend hockt er in einem parkenden Auto auf einem Waldweg in den belgischen Ardennen, kurz davor, ohnmächtig zu werden. Denk an etwas … Gutes . Das Spiel, das Joni in der Bonita Avenue gespielt hat, ein Spiel, das sie «Das netteste Mädchen von Amerika» nannte. Sie schob ihr Gesicht durch die Tür des Elternschlafzimmers, ein blonder Mädchenkopf, von dem der neue Tag wie Tau heruntertropfte: «Papa, Mama, Achtung, Vorrunde. Nettestes Mädchen von Amerika. Liegen bleiben.» Er lehnt sein ausgelaugtes Haupt an die Kopfstütze, schließt für einen Moment die Lider, sofort saugen sie sich am Weiß seiner Augen fest. Von ihrem Bett aus hörten sie, wie Joni unten in der holzvertäfelten Küche Orangensaft auspresste, Kaffee machte, Brote toastete; es gab auch eine abendliche Variante des Spiels, in der sie durch das kleine Wohnzimmer flog wie in einem schneller laufenden Film, ein fleißiges Bienchen, das mit Streichhölzern Kerzen anzündet, Vorhänge zuzieht, das rührende Hantieren mit dem Korkenzieher und einer Flasche, die nicht …
    Es hat die entgegengesetzte Wirkung. Seine glücklichsten Erinnerungen stürzen ihn in äußerste Traurigkeit. Er öffnet die Augen, lässt die Seitenscheibe herunter und späht minutenlang in den Wald; die schwarzen Stämme stehen dicht beieinander, weiter als rund dreißig Meter reicht sein Blick nicht. In der Tiefe: Finsternis.
    Er hatte sich nicht rühren können, konnte nur hinüberstarren. Wie lange lag der Schuft schon dort? Er schien ausgerutscht zu sein, war bestimmt ausgeglitten, vielleicht war er auf den Kopf gefallen, möglicherweise auf den Arm. Hatte er versucht, wieder aufzustehen? Der Schnee um ihn herum: zerwühlt. Er schlief seinen Rausch aus. War es das? Der Rum – er musste sturzbetrunken sein, er war gestürzt, hatte mit dem gesunden Arm gerudert und dann, als er nicht wieder hochkam, gedacht: Na dann, gute Nacht. Der Idiot lag da bei minus dreizehn Grad und schlief seinen Rausch aus.
    Er ging mit sich zu Rate. Wie oft beratschlagte er in letzter Zeit mit seinem Gewissen? Diesmal waren sie sich schnell einig. Einen Moment noch betrachtete er gebannt den schlafenden Körper

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