Bonjour Tristesse
schien ich nicht zu besitzen. Ich
spürte deutlich, daß mir in dieser Beziehung etwas fehlte.
»Anne«, sagte ich unvermittelt, »halten
Sie mich für intelligent?«
Sie begann, erstaunt über die
Brutalität dieser Frage, zu lachen:
»Aber sicher, ich bitte dich! Warum
fragst du mich das?«
»Wenn ich idiotisch wäre, hätten Sie
mir genau die gleiche Antwort gegeben«, seufzte ich. »Sie geben mir oft das
Gefühl, daß Sie mir weit überlegen sind...«
»Das ist eine Frage des Alters«, sagte
sie. »Es wäre schlimm, wenn ich nicht etwas mehr Selbstsicherheit hätte als du.
Du würdest mich beeinflussen!«
Sie mußte sehr lachen. Ich war
verletzt.
»Und Sie glauben, das wäre auf jeden
Fall schlecht?«
»Es wäre eine Katastrophe«, sagte sie.
Sie gab plötzlich diesen leichten
Plauderton auf und sah mir gerade ins Gesicht, in die Augen. Es machte mich
befangen, ich konnte nicht stillhalten. Selbst heute kann ich mich noch nicht
an diese Manie der Leute gewöhnen, einen starr anzublicken, wenn sie mit einem
reden, oder ganz nah an einen heranzutreten, um sicher zu sein, daß man ihnen
zuhört. Außerdem ist ihre Berechnung falsch, denn ich denke in diesen Fällen
nur noch daran, wie ich ihnen entwischen und mich zurückziehen könnte; ich sage
»ja, ja«, trete von einem Fuß auf den anderen und versuche alle möglichen
Manöver, um an das andere Ende des Zimmers zu entfliehen. Die Wut packt mich
über ihre Zudringlichkeit, ihre Indiskretion, über diesen Anspruch auf
Ausschließlichkeit. Glücklicherweise fühlte Anne sich nicht verpflichtet, auf
diese Art Besitz von mir zu ergreifen; sie begnügte sich damit, mich unverwandt
anzublicken, und es wurde schwierig für mich, den von mir bevorzugten leichten,
zerstreuten Plauderton beizubehalten.
»Weißt du, wie diese Sorte endet, die
Sorte: Webb?«
›Und die Sorte: Raymond‹, dachte ich
bei mir.
»In der Gosse«, sagte ich fröhlich.
»Es kommt eine Zeit, wo sie nicht mehr
verführerisch und, wie man sagt, ›in Form‹ sind. Sie können nicht mehr trinken,
und sie denken immer noch an Frauen; nur müssen sie sie jetzt bezahlen, und sie
müssen viele kleine Demütigungen in Kauf nehmen, um ihrer Einsamkeit zu
entfliehen. Sie machen sich lächerlich, sie sind unglücklich. Und diesen
Zeitpunkt wählen sie sich aus, um sentimental und anspruchsvoll zu werden...
Ich habe viele gesehen, die auf diese Art elend verkommen sind.«
»Armer Webb!« sagte ich.
Ich war ratlos. So sah das Ende aus,
das meinem Vater drohte! Das Ende, das ihm gedroht hätte, wenn Anne sich nicht seiner
angenommen hätte.
»Du denkst nicht daran«, sagte Anne mit
einem kleinen, mitleidigen Lächeln. »Du denkst wenig an die Zukunft, nicht
wahr? Das ist das Vorrecht der Jugend.«
»Bitte, Anne«, sagte ich, »werfen Sie
mir nicht meine Jugend vor. Ich mache so wenig Gebrauch von ihr wie möglich.
Ich glaube nicht daran, daß sie mir ein Recht auf alle Privilegien gibt oder
alles entschuldigt. Ich messe ihr keine Bedeutung bei.«
»Und welchen Dingen mißt du Bedeutung
bei? Deiner Ruhe, deiner Unabhängigkeit?«
Ich fürchtete diese Art von Gesprächen,
besonders mit Anne.
»Keinen«, sagte ich. »Ich denke nicht,
wie Sie wissen.«
»Ihr geht mir ein bißchen auf die
Nerven, du und dein Vater: ›Wir denken nie über irgend etwas nach... Wir sind
zu nichts nütze... Wir wissen nichts...‹ Gefallt ihr euch sehr in dieser
Rolle?«
»Ich gefalle mir gar nicht. Ich mag
mich nicht, ich versuche gar nicht, mich zu mögen. Es gibt Augenblicke, in
denen Sie mich dazu zwingen, mir mein Leben zu komplizieren, und das nehme ich
Ihnen fast übel.«
Sie begann nachdenklich vor sich hin zu
singen; ich erkannte die Melodie, aber mir fiel nicht ein, was für ein Lied es
war.
»Was ist das für ein Lied, Anne? Es
ärgert mich, daß...«
»Ich weiß es nicht.« Sie lächelte
wieder — etwas entmutigt. »Bleib im Bett, ruh dich aus, ich werde meine
Untersuchungen über den Geisteszustand der Familie woanders fortsetzen.«
›Natürlich, für meinen Vater war das
einfach«, dachte ich bei mir. Ich hörte ihn, wie er sagte: »Ich denke an
nichts, Anne, weil ich dich liebe.« So intelligent sie war, mußte ihr das als
eine ausreichende Erklärung erscheinen. Ich streckte und reckte mich, lang und
sorgfältig, und vergrub mich wieder in mein Kopfpolster. Ich dachte viel nach,
obwohl ich Anne gegenüber das Gegenteil behauptet hatte. Im Grunde
»dramatisierte« sie bestimmt; in
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