Bonjour Tristesse
lebendig. Ich erinnerte mich daran, daß ich zu Anne gesagt hatte,
Cyril sei mein Liebhaber, und darüber mußte ich lachen. Wenn man betrunken ist,
sagt man die Wahrheit, und kein Mensch glaubt einem. Ich erinnerte mich auch an
Madame Webb und an unsere Auseinandersetzung. Ich war an diese Sorte Frauen
gewöhnt; in diesem Milieu und in diesem Alter waren sie oft gehässig, weil sie
nichts zu tun hatten und voller Lebensgier waren. Annes ruhige Ausgeglichenheit
hatte Madame Webb in meinen Augen noch unzureichender und langweiliger
erscheinen lassen als gewöhnlich. Das war übrigens vorauszusehen gewesen; es
bestand nicht viel Hoffnung, daß irgendeine von den Freundinnen meines Vaters
einem Vergleich mit Anne lange standhalten würde. Um mit diesen Leuten einen
angenehmen Abend zu verbringen, mußte man entweder etwas betrunken sein oder
Freude am Streiten haben, oder man mußte zu einem der Ehepartner intime
Beziehungen unterhalten. Für meinen Vater war das einfacher: Charles Webb und
er waren Schürzenjäger. »Rate, wer heute abend mit mir ißt und schläft? Die
kleine Mars aus dem Film von Saurel. Ich gehe nachher zu Dupuis und...« Mein
Vater lachte und klopfte ihm auf die Schulter: »Glücklicher Bursche! Sie ist fast
so schön wie Elise.« Gymnasiastengeschwätz. Aber das, was mich daran
unterhielt, war, mit wieviel Erregung und Feuer sie darüber sprachen. Und
selbst die traurigen Geständnisse von Lombard während endloser Abende auf der
Terrasse eines Cafés: »Ich habe nur sie geliebt, Raymond! Erinnerst du dich an
dieses Frühjahr, bevor sie wegfuhr... Es ist blödsinnig, ein Männerleben für
eine einzige Frau!« Daran war etwas Unanständiges, Demütigendes, aber zugleich
auch Ergreifendes: zwei Männer, die sich ihre Herzen ausschütteten.
Annes Freunde sprachen sicher nie über
sich selber. Sicherlich kannten sie diese Art von Abenteuern gar nicht. Oder
wenn sie doch davon redeten, so taten sie es wahrscheinlich lachend, weil sie
sich genierten. Ich war bereit, unsere Bekannten mit der gleichen Herablassung
zu betrachten wie Anne — mit dieser liebenswürdigen und sehr ansteckenden
Herablassung... Zugleich aber sah ich mich mit dreißig Jahren, wie ich viel
mehr Ähnlichkeit mit unseren Freunden haben würde als mit Anne. Ihr Schweigen,
ihre Gleichgültigkeit, ihre Zurückhaltung würden mich ersticken. Im Gegenteil,
in fünfzehn Jahren würde ich mich etwas blasiert zu einem verführerischen, auch
ein wenig müden und gelangweilten Mann vorneigen:
»Mein erster Liebhaber hieß Cyril. Ich
war fast achtzehn Jahre alt, es war sehr heiß am Meer...«
Es machte mir Spaß, mir das Gesicht
dieses Mannes vorzustellen. Er würde die gleichen kleinen Falten haben wie mein
Vater.
Jemand klopfte an die Tür.
Ich schlüpfte hastig in meine
Pyjamajacke und rief: »Herein!« Es war Anne; sie balancierte eine Tasse.
»Ich dachte mir, daß du ein wenig
Kaffee brauchen kannst. Fühlst du dich sehr schlecht?«
»Nein, sehr gut«, sagte ich. »Ich
glaube, ich war gestern etwas beschwipst.«
»Wie immer, wenn man mit dir ausgeht...«
Sie lachte. »Aber ich muß zugeben, daß du mir ein wenig Zerstreuung verschafft
hast. Der Abend war lang.«
Ich achtete nicht mehr auf die Sonne
und nicht einmal mehr auf den Geschmack des Kaffees. Wenn ich mit Anne sprach,
war ich völlig absorbiert, ich vergaß mich, hörte auf, mich zu beobachten. Und
trotzdem war sie der einzige Mensch, der mich immer in Frage stellte und mich
zwang, mich selber zu beurteilen. Sie ließ mich Augenblicke erleben, die
schwierig und voller Spannung waren.
»Cecile, amüsierst du dich mit dieser
Art von Leuten, den Webbs und den Dupuis?«
»Ich finde ihre Manieren meistens
unerträglich, aber sie selber sind komisch.«
Sie sah auch der Fliege zu, die auf dem
Fußboden herumkroch. Die Fliege ist sicher krank, dachte ich. Anne hatte lange,
schwere Lider, es war leicht für sie, herablassend zu sein.
»Merkst du nie, wie unbeschreiblich
monoton und — wie soll ich sagen — schwerfällig ihre Konversation ist? Diese
Geschichten über Ehen, über Mädchen, über Gesellschaften, langweilt dich das nie?«
»Wissen Sie, Anne, ich war zehn Jahre
lang in einem Kloster, und die Unmoral dieser Leute fasziniert mich noch
immer.«
Daß sie mir gefiel, wagte ich nicht
hinzuzufügen.
»Seit zwei Jahren...«, sagte sie. »Es
hat übrigens nichts mit Urteilsfähigkeit oder Moral zu tun, es ist eine Frage
des Gefühls, des sechsten Sinnes...«
Den
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