Bordeuax
oder Zahlen im
Kopf zu addieren. Es war sonderbar, aber was ich nach dem zweiten Glas am
deutlichsten verspürte, war der Wunsch, ein drittes Glas zu trinken. So weit
kam es nie. Den Rest der Flasche schüttete ich immer in den Ausguss, so wie
Francis es mir empfohlen hatte, damit der Wein nicht stirbt.
Es war ein komischer Gedanke, dass
Wein so schnell stirbt. Wie hatte sich Francis ausgedrückt? Für seine
Erschaffung braucht es die Erfahrung eines ganzen Lebens, zehn Jahre in der
Flasche, um heranzureifen, und dann waren ihm nach Öffnung der Flasche nur
wenige Stunden beschieden, in denen er ausgetrunken oder weggeschüttet werden
musste.
Alles war endlich, natürlich auch
das eigene Leben. In einer wissenschaftlichen Zeitschrift hatte ich mal
gelesen, dass wir anfangen zu sterben, sobald die Zellen aufhören sich zu
teilen und zu wachsen, etwa im Alter von zwanzig Jahren. In demselben Artikel
stand außerdem, dass wir mit etwa fünf Jahren unsere Lernfähigkeit weitgehend
einbüßen; das Vermögen, neue Information aufzunehmen, reduziert sich dann um
drei Viertel. So gesehen war ich längst auf dem absteigenden Ast. Ich war ein
gutes Stück über dreißig, mein Gehirn schmolz aufgrund eines rasanten Verfalls
der Zellen dahin, mein Körper hatte aufgehört zu wachsen und angefangen zu
altern, und mehr als ein paar clevere Softwareprogramme hatte ich bisher nicht
zustande gebracht.
Diese Ansicht äußerte ich eines
Abends gegenüber Andy, als wir wieder mal im Al Diwan aßen, dem indischen
Restaurant.
Er schaufelte ein paar Löffel
gehackter Zwiebeln auf einen Fetzen Pappadam und strich eine Portion scharfes
Lime Pickle darüber. »In deinem Fall würde ich sogar sagen, dass du schon
längst tot bist, Wilberforce, oder wenigstens scheintot.«
»Nicht gerade sehr charmant«, sagte
ich. Andy zog mich gerne auf, das wusste ich schon, aber für meinen Geschmack
zu oft.
»Im Ernst«, sagte er, »ich finde, du
gönnst dir zu wenig im Leben. Warum fährst du zum Beispiel nie in Urlaub?«
»Wohin denn?«
»Mallorca. Florida. Die Malediven.
Wohin du willst. Du kannst es dir leisten. Aber du kümmerst dich nie um so
etwas.«
Andy nahm häufig Urlaub. Er
arbeitete viel, aber mindestens dreimal im Jahr fuhr er mit seiner Freundin
nach Frankreich oder Spanien und träumte von einer eigenen Villa neben einem
Golfplatz.
»Was soll ich denn im Urlaub
machen?«, fragte ich ihn.
»Gar nichts. Darum geht es ja«,
erklärte Andy. Er trank einen Schluck Bier. »Und dann wäre da noch die Frage
nach deinem Privatleben.«
»Was für ein Privatleben?«
»Eben«, sagte Andy. »Was für ein
Privatleben? Andere Leute haben Freunde. Sie haben Freundinnen. Manchmal gehen
sie mit ihren Freundinnen auch ins Bett und schlafen mit ihnen. Hattest du
Aufklärungsunterricht oder bist du von der Schule gegangen, bevor das dran
war?«
Ich mochte es nicht, wenn Andy mich
so aufzog, andererseits gefiel es mir, wenn er über mich redete. Niemand sonst
hatte sich je mit dem Thema befasst, außer den Lehrern, die meine Zeugnisse
schrieben. Er hatte eine attraktive Freundin, die Clare hieß und die er, wie er
mir mal verraten hatte, vielleicht sogar heiraten würde, wenn er die Zeit
hätte.
»Ich hatte Leistungsfach Biologie«,
sagte ich. »Da habe ich eine Drei drin bekommen. Und in Mathematik eine Eins
plus, und ...«
»Wir schreiben hier nicht deinen
Lebenslauf«, sagte Andy. »Ich will damit nur sagen, dass die meisten Menschen
wahrscheinlich doch ein paar Freunde haben, wenn sie dein Alter erreicht haben.
Sie sind Mitglied im Rugby-Verein oder im Tennisclub oder in irgendeinem
Golfclub. Vielleicht gehören sie auch gar keinem Verein an, aber sie gehen aus
und treffen sich mit anderen Leuten. Vielleicht sind sie mit jemandem zusammen,
vielleicht sind sie verheiratet. Ziemlich viele heiraten sogar vor ihrem
dreißigsten Lebensjahr, Wilberforce. Hast du das gewusst? Wir beide sind immer
noch Single, und in unserem Alter sind wir eher die Ausnahme als die Regel.
Aber ich kann wenigstens sagen, dass es in meinem Leben eine Frau gibt.«
»Sogar eine sehr nette.« Ich dachte
an Clare.
»Ja, nicht?« Andy grinste
selbstgefällig. »Ich will dir keine Predigt halten - ähem, ich bekomme das
Lamm Vindaloo, und mein Freund das Huhn Madras«, sagte er zu dem Kellner, als
das Essen kam. »Aber du hast damit angefangen, von Privatleben zu sprechen.«
Es entstand eine kleine
Unterbrechung, während der wir nachwürzten.
»Ja, ich habe mir
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