Bordeuax
spürte Angst in mir aufsteigen.
Colin hielt mir keine Strafpredigt mehr. Er wollte mich vorbereiten auf eine
Nachricht, die mir nicht gefallen würde.
»Wilberforce«, hob Colin mit sanfter
Stimme an, während ich mir ein zweites Glas Fitou einschenkte, »wir glauben,
dass sich bei dir eine Krankheit abzeichnet, die sich Wernickes Enzephalopathie
nennt.«
»Wie bitte?«
»Eine Nebenerscheinung von
exzessivem Alkoholgenuss. Sie führt zu einer mangelnden Thiaminproduktion in
der Leber.« Colin verschränkte die Arme und musterte mich, als wollte er mir
einen Vorwurf machen: Siehst du jetzt, was du angerichtet hast?
»Oje«, sagte ich, denn irgendeine
Reaktion wurde wohl von mir erwartet. »Und was bewirkt das?« Eigentlich wollte
ich es gar nicht wissen, aber Colin würde nicht eher Ruhe geben, bis er es mir
verraten hatte.
»Deine Leber produziert Thiamin, das
in eine chemische Substanz umgewandelt wird, die Thiaminpyrophosphat heißt.
Thiaminpyrophosphat ist eine wesentliche Komponente bei der Übertragung von
Nervenreizen. Wenn man Wernickes Enzephalopathie hat, die unserer Ansicht nach
bei dir in einer ausgeprägten Form vorliegt, stellt die Leber die
Thiaminproduktion ein. Das führt zu einigen sehr hässlichen Symptomen.« Er
machte eine Pause, ich sagte nichts.
»Du wirst an Hypothermie leiden.
Dein Geschmacks- und Geruchssinn werden beeinträchtigt. Allmählich verlierst
du die Kontrolle über die Bewegungen deiner Augenlinsen. Das ist erst die
Anfangsphase, die in deinem Fall bereits sehr weit fortgeschritten ist. Zur
Spätphase gehören geistige Verwirrung, retrograde Amnesie und ein seltsamer
Nebeneffekt, das so genannte Korsakow-Syndrom. Ein Patient mit einem
Korsakow-Syndrom leidet unter schwerer Konfabulation, einer
Erinnerungstäuschung, der eine Verwechslung von erfundenen und tatsächlichen
Ereignissen zugrunde liegt. Mit der Zeit verliert er jede Fähigkeit, eigene
Erlebnisse von fantasierten Erlebnissen zu unterscheiden. In der Endphase,
bevor das Koma eintritt und dann der Tod, verfällt er ganz und gar der
Wahnwelt, die er sich zurechtgelegt hat.« Colin beendete seinen Bericht.
»Was für eine Wahnwelt?«
»Sie kann sich zum Beispiel um einen
Film ranken, den du mal gesehen hast, oder einen Artikel, den du vor zehn
Jahren mal in irgendeiner Zeitschrift gelesen hast, eine zufällige Bemerkung,
die mal jemand zu dir gemacht hat. Irgendwelches Zeug, das dein Gehirn
abgespeichert hat und das in irgendeinem Archiv deines Gedächtnisses lagert,
stößt plötzlich in dein Bewusstsein vor. Aber dein Gehirn hat die Fähigkeit
verloren, diese falschen Erinnerungen von den echten zu unterscheiden.«
Ich saß am Küchentisch, goss mir ein
letztes Glas Wein ein und sah Colin entsetzt an. Angenommen, ich würde die
reale Welt vergessen, ich würde meinen Wein vergessen, ich würde Francis vergessen,
ich würde sogar Catherine vergessen. Ich würde aufhören zu existieren. Ich
würde weiterleben, aber ich hätte keine Existenz mehr.
Was würde aus alldem Wein?
»Kann man es behandeln?«, fragte ich
Colin.
»Wenn es frühzeitig entdeckt wird,
lässt es sich in den meisten Fällen gut behandeln. In den späteren Phasen wird
es schwieriger, wenn auch nicht ganz unmöglich, die Veränderungen der chemischen
Vorgänge im Körper rückgängig zu machen. In deinem Fall sind die Aussichten
nicht so rosig, wie ich es gerne hätte.«
Würden sie den Wein verkaufen, wenn
ich tot wäre? Würde er einfach in Vergessenheit geraten, oder würden Diebe in
die Gruft einbrechen und sie plündern, wenn erst mal bekannt war, dass ich nicht
mehr nach Caerlyon zurückkehren würde? Finstere Vorahnungen quälten mich, Château-Margaux-Flaschen,
die an Straßenecken in Tyneside angeboten wurden, im Tausch gegen Drogen.
»Wie wird es behandelt?«, fragte
ich.
»Die Behandlung besteht aus großen
Dosen Thiamin, die intramuskulär injiziert werden. Aber solange du nicht mit
dem Trinken aufhörst, hat es keinen Sinn, überhaupt damit anzufangen.«
»Und wenn ich nicht damit aufhöre?«
Colin goss sich den letzten Tropfen
Wein in die Kehle und stand auf. »Ich muss gehen«, sagte er. »Überleg es dir.
Montag, zur gleichen Zeit, komme ich wieder vorbei und sehe nach dem Rechten.
Übers Wochenende bin ich in Hampshire.« Er holte sein Portemonnaie aus der
Manteltasche hervor, zog eine Karte heraus und unterstrich mit seinem Stift
eine Telefonnummer. »Unter dieser Nummer bin ich auf dem Land zu erreichen.
Ruf mich an, wenn
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