Bordeuax
es einen Notfall gibt.«
Was für ein Notfall konnte das sein?
Ich wiederholte meine Frage von vorhin. »Und wenn ich nicht mit dem Trinken aufhöre?«
»Wenn du nicht mit dem Trinken
aufhörst, nehmen die Erinnerungstäuschungen zu. Die falschen Erinnerungen
bestimmen zunehmend dein Leben. Du fällst immer häufiger ins Koma. Im Koma
sinkt deine Körpertemperatur, und bei einem dieser Anfälle wirst du schließlich
draufgehen. So einfach ist das. Also, überleg dir, was du machen willst,
Wilberforce. Montag reden wir weiter.«
Ich blieb sitzen und starrte auf den
Tisch. In gewisser Hinsicht wäre es kein schlechter Abgang. Aber was würde aus
dem ganzen Wein?
4
Ich wachte am nächsten Morgen auf,
und mir war kalt. Ich stieg aus dem Bett und guckte nach, ob die Zentralheizung
eingeschaltet war. Der Heizkörper strahlte eine schwache Hitze aus; vielleicht
funktionierte die Heizung nicht richtig, vielleicht funktionierte auch ich
nicht richtig. Ich ging nach unten. Auf der Türmatte lag ein brauner Umschlag;
ich machte ihn auf und las den Brief. Er war von dem Stromunternehmen, und er
besagte, dass die automatische Abbuchung von meiner Bank verweigert worden sei;
sollten die ausstehenden Schulden nicht umgehend beglichen werden, würde die
Stromlieferung eingestellt.
Ich ging in die Küche und suchte im
Kühlschrank nach etwas Essbarem zum Frühstück. Aber darin befand sich das
Gleiche wie schon gestern und wie vorgestern: nichts. Wenn man etwas in seinem
Kühlschrank haben wollte, musste man natürlich vorher einkaufen, das war mir
schon klar. Irgendwie war ich nicht dazu gekommen, Lebensmittel zu kaufen,
obwohl der Laden an der Ecke zu allen Tages- und Nachtzeiten geöffnet hat. Ich
nahm mir vor, später zu gehen, wenn ich richtig aufgestanden war. Aber
eigentlich wollte ich gar nicht aus dem Haus; ich könnte ja jemanden auf der
Straße treffen, den ich nicht sehen wollte.
Ich schaute auf die Uhr, halb elf. Ich
musste mehr als zwölf Stunden geschlafen haben. Ich gähnte. Die Küche war viel
zu deprimierend, um sich länger in ihr aufzuhalten. Anscheinend wusch nie
jemand das Geschirr ab, und der ganze Raum roch muffig. Ich räumte einige
schmutzige Weingläser vom Tisch und trug sie zur Spüle, immerhin. Ich nahm zwei
leere Flaschen und warf sie in den Glascontainer, der aber voll war. Der müsste
auch mal geleert werden, dachte ich. Für ein Frühstück war es zu spät. Ich
beschloss, eine Flasche aufzumachen und mich mit einem Glas wieder ins Bett zu
verkriechen und erst später aufzustehen. Ich entkorkte eine Flasche Roten aus
der Murrumbidgee Irrigation Area von New South Wales in Australien, die ich im
Keller gefunden hatte, und nahm sie zusammen mit einem Glas nach oben. Ich
kletterte zurück ins Bett, goss mir das Glas voll und stellte die Flasche auf
den Nachttisch. Ich warf einen kurzen Blick auf das Etikett und fragte mich,
wieso Francis, der Bordeauxliebhaber, diesen Fremdling in seinem Keller
zugelassen hatte. Wahrscheinlich hatte die Flasche zu einem Weinpaket gehört,
das er auf einer Auktion ersteigert hatte.
Während ich den Wein nippte, einen
jungen Wein, dachte ich über meine Situation nach. Ich musste unbedingt Geld
auftreiben, das stand fest. Ich konnte wohl meine Wohnung verkaufen, die vermutlich
eine Menge wert war - bloß, wo sollte ich dann leben? Irgendwann, vergangenes
Jahr, hatte ich eine ziemlich hohe Hypothek auf die Wohnung aufgenommen, um
eine Überziehung meines Bankkontos auszugleichen. Trotzdem würde es sich
lohnen, die Sache bei Gelegenheit anzugehen. Dann gab es noch Catherines
Schmuck. Ihre Familie forderte mich ständig auf, ihn zurückzugeben, aber
eigentlich war ich rechtmäßiger Besitzer, und sie brauchte ihn nicht mehr. Den
könnte ich also auch verkaufen; wenigstens würde es für ein paar Rechnungen
reichen, solange ich noch darüber nachdachte, was ich weiter machen wollte.
Diese Überlegungen waren wie ein
stummes Selbstgespräch, das ich immer wieder führte. Manchmal gedieh es so
weit, dass ich mir auf einem Zettel eine Erledigungsliste notierte, zum
Beispiel:
1 Mit der Bank über Erhöhung der zweiten Hypothek
reden
2 Als IT-Berater arbeiten, Einnahmequelle
3 Ausgehen, Leute treffen
4 Nicht zum Frühstück trinken, oder vor Mittag
5 Jeden Tag eine Stunde im Hyde Park spazieren gehen
Es hatten sich einige solcher Listen
in und auf meinem Schreibtisch angesammelt, aus dem einfachen Grund, weil der
Papierkorb so voll war, dass es
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