Bordeuax
die Gruft vorzustellen, aber
nachdem Wochen und Monate ins Land gegangen waren, verblassten die Bilder von
den Kistentürmen und Weinflaschen und wurden schemenhaft, wie ein Traum, an den
man sich nur undeutlich erinnert. Es war immer mit einem Gefühl der Angst
verbunden, wenn ich an diesen Ort zurückkehrte, davor, er könne sich in meiner
Abwesenheit verändert haben oder geschrumpft sein.
Ich begab mich nach unten, knipste
im Vorbeigehen das Licht an, und die Gruft, das glitzernde Mysterium, erwachte
vor meinen Augen zum Leben. Es war, als verharrte sie in einer anderen Dimension
und wäre nun wieder aufgetaucht, wie ein riesiges Flugzeug, das mit seiner
wundersamen Fracht aus einer Region außerhalb von Zeit und Raum einschwebte.
Voller Ehrfurcht sah ich die Tausenden von Kisten, zu Säulen und Inseln
angeordnet, die schimmernden Flaschenregale an den Seitenwänden.
Ich schritt die Gänge ab, trat aus
dem Schatten ins Licht und wieder in den Schatten. Hier und da blieb ich
stehen, um die mit Schablonen aufgemalten Buchstaben zu entziffern, oder nahm
eine Flasche in die Hand und las das Etikett. Es war wie eine Heimkehr, als
bewegte ich mich unter meinen engsten Freunden, meiner eigenen Familie. Château des Trois Chardons, Château
Sociando-Mallet, Château Vieux-Robin, Château Ducru-Beaucaillou. Ich raunte die Namen und drehte die Flaschen mal in
die eine, mal in die andere Richtung.
»Weißt du was, Francis?«, sagte ich.
»Ich habe noch nie eine Flasche Canon-la-Gaffeliere getrunken. Ist das nicht
seltsam? Du hast nie eine für mich heraufgeholt, aber ich bin mir sicher, dass
wir schon mal darüber gesprochen haben. Ich muss bestimmt zwanzigmal an der
Flasche vorbeigegangen sein, ohne dass sie mir aufgefallen ist.«
Francis war tot und antwortete
nicht, aber das Licht flackerte kurz, und da wusste ich, dass er mit meiner
Wahl einverstanden war. Ich nahm die Flasche mit nach oben, um sie vor dem
Abendessen zu trinken. Dann beschloss ich, den Wein doch lieber jetzt gleich
zu kosten, damit er mich später nicht enttäuschte. Ich setzte mich in den Laden
und trank. Francis hätte sich mir gegenüber gesetzt, damals, auf den Stuhl
hinter seinem Schreibtisch. Und er hätte mir etwas über den Wein erzählt, den
wir tranken, Geschichten über die Familie, die ihn herstellte, den Ort, in dem
er angebaut wurde.
»Der ist köstlich«, sagte ich laut.
»Wenn du ihn doch bloß probieren könntest, Francis.«
Es war beinahe so, als stünde er
leibhaftig vor mir, jedenfalls hatte ich ein genaues Bild von ihm: schwarzes
Haar, mit silbergrauen Strähnen, aus der Stirn gekämmt, halbmondförmige Brauen
über tief liegenden braunen Augen, Adlernase, und seine sanft ironische Miene,
die er immer aufsetzte. Er hätte auf seinem Stuhl gesessen, die langen Beine
übereinandergeschlagen, mit seiner verschlissenen Cordhose und den
ramponierten Wildleder-Pantoffeln, und er hätte gesagt: »Trink dies zu meinem
Andenken.« Das hatte er tatsächlich einmal gesagt.
Ich schreckte zusammen, denn die
Worte waren laut ausgesprochen worden, und im ersten Moment dachte ich,
Francis würde vor mir sitzen. Aber es war nur meine eigene Stimme, die ich
gehört hatte.
Ich schenkte mir nach und sah auf
die Uhr. Ich musste unbedingt aufbrechen, wenn ich meine Mutter besuchen und
ihr den Toaster übergeben und anschließend noch Essen für heute Abend einkaufen
wollte, bevor Catherine zurückkam. Dann schaute ich mir wieder das Etikett auf
der Flasche an.
»1971«, sagte ich zu mir selbst. »Ob
er wohl auch den 1987er hat?« Ich könnte ja in den Keller gehen und mal
nachgucken, nur für den Fall. Am besten meine Mutter nicht besuchen, sondern
gleich die Einkäufe erledigen. So hatte ich mehr Zeit. Den Toaster konnten wir
ihr auch noch morgen vorbeibringen, bevor wir wieder Richtung Süden fuhren.
Ich saß noch immer in dem Laden und
leerte eine zweite Flasche Canon-la-Gaffeliere, die ich entdeckt hatte, als
Catherine nach Hause kam.
»Habe ich mir doch gedacht, dass ich
dich hier unten finde«, sagte sie. Sie sah nicht verärgert aus, nicht mal
enttäuscht, sie war nur sehr blass.
»Wie war es?«
Catherine setzte sich auf Francis'
Stuhl, mir gegenüber. Soll ich ihr sagen, dass sie sich nicht da hinsetzen
soll, überlegte ich. Aber dann kam ich zu dem Schluss, dass es unter den
gegebenen Umständen vielleicht nicht gerade taktvoll wäre.
»Du warst gar nicht einkaufen, nehme
ich an«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
»Und hast
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