Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
herum.
»Weiter hinten. Jef kommt erst in der zweiten Hälfte. Kommen Sie, geben Sie es mir, ich zeige ihn Ihnen.«
Während Deleu sich fragte, was er den Küster noch alles fragen konnte, blätterte der rüstige Herr das Album durch. Hier und da rutschten Fotos, die sich aus den Fotoecken gelöst hatten, in der Mitte des Albums übereinander.
Piet Palinckx legte Deleu das aufgeschlagene Album vor die Nase.
»Hier, das ist er, Jef Hermans.«
Deleu betrachtete die vergilbten Polaroids auf der betreffenden Seite. Sein Herz setzte nicht einen, sondern mindestens zehn Schläge aus. Auf diesen Fotos wirkte Josef Hermans wesentlich älter. War das überhaupt Josef Hermans? Deleu wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Was, wenn der alte Mann an Verkalkung oder einer anderen Form von Demenz litt?
»Wer … äh … Wer von diesen Leuten ist denn Pastor Hermans?«
Piet Palinckx deutete mit seinem nikotingelben Fingernagel auf einen Mann mit kurzgeschnittenen Haaren, der sich mit einem jungen Mann unterhielt, offensichtlich einer Art Messdiener.
»Ist das Josef Hermans?«
»Natürlich ist das der Jef. Wer denn sonst?«
Deleu schlug die Hand vor den Mund und studierte das unscharfe Foto. Irgendwie ähnelte Hermans durchaus ein wenig dem Mann auf dem Foto. Aber seit der Aufnahme waren mindestens acht Jahre vergangen. Hatte Hochwürden sich liften lassen? Außerdem hatte dieser Mann ein großes Muttermal auf einer Wange.
»Was ist das, Mijnheer Palinckx, ist das ein Fleck auf dem Foto?«
»Nein, der Jef hat doch ein Muttermal im Gesicht.«
Unfassbar. Nein, das war nicht der Josef Hermans, den er kannte. Pastor Hermans war gar nicht Pastor Hermans.
»Haben Sie noch ein anderes Foto von ihm?«
»Ja, natürlich. Mindestens eines mit mir zusammen im Taubenschlag. Hier, suchen Sie es selbst heraus. Noch ein Schnäpschen?«
»Nein, danke …«
Fieberhaft blätterte Deleu in dem Fotoalbum herum. Da war es, das Foto im Taubenschlag. Der alte Mann war keineswegs verkalkt. Der Pastor auf einem Schlachtfest. Der Pastor auf einem Rennrad, mit Muttermal. Hatte der Mecheler Josef Hermans ein Muttermal? Nein, da war er sich ganz sicher. Er hatte keins.
Dann kamen Fotos von einem anderen Pastor. Das musste De Meester sein, denn danach kam ein Foto von Devriendt bei einer Taufe. Deleu blätterte zu den Aufnahmen von Hermans zurück und betrachtete sie eine nach der anderen.
Auf dem Foto mit dem Rennrad war Pastor Hermans zu sehen, der im Sattel saß. Hinter ihm stand der Küster. Dahinter, zwischen dem Pastor und dem Küster, stand eine weitere Gestalt, deren Gesicht unscharf war.
Deleu hielt das Foto in das schwache Licht der Glühbirne, die von der Decke hing, und ihm stockte der Atem. Er fuhr mit dem Zeigefinger die Umrisse des verschwommenen Gesichts mit den glatten, halblangen Haaren nach und hielt das Foto Piet Palinckx vor die Nase.
»Wer ist das denn?«
»Äh … wer?«
»Der hier, zwischen dem Pastor und Ihnen. Der Mann, der dem Pastor den Arm um die Schultern legt.«
»Warten Sie, das ist schon so lange her. Ich setze mal eben meine Brille auf.«
Piet Palinckx suchte einige Minuten, die Deleu wie Stunden vorkamen, in einer Schublade herum und kehrte zurück mit einer Brille, deren Gläser Flaschenböden ähnelten.
»Da, dieser Mann. Wer ist das?«
»Ach Gott, der war ja damals auch dabei. Das ist – das war Bert, Bert Hermans, Jefs Bruder. Dieser Mistkerl, der mit den Kindern. Na ja, Sie wissen schon. Heutzutage liest man ja andauernd darüber in der Zeitung. Dieser Mistkerl ist schuld daran, dass Pastor Hermans von hier weggegangen ist. Jef ist nie darüber hinweggekommen, dass so etwas in seiner Gemeinde geschehen konnte. Er ist nie wieder der Alte geworden. Der Jugendgruppe liefen die Mitglieder weg, die Eltern begleiteten ihre Kinder zum Kommunionsunterricht, die Messdiener blieben weg. Schlimm, schlimm war das für den Jef, obwohl der ja gar nichts dafür konnte.«
»Und dieser Mann, Bert Hermans, der war der Bruder des Pastors?«
»Ja, sein jüngerer Bruder. Hatte ein Zimmer oben im Pfarrhaus. Ein richtiger Taugenichts. Der Jef hat immer für ihn gesorgt. Er hat ihn sogar bei der Gemeindearbeit helfen lassen, aber das hätte er besser nicht getan. Immer war der mit Kindern unterwegs. Sie kennen das bestimmt. Das sollte man solchen nicht erlauben. Zwar immer freundlich, das ja, aber in Wahrheit!«
»Und was ist aus ihm geworden?«
»Das weiß ich nicht. Man konnte ihm das nie nachweisen,
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