Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
schlief weiter.«
Wichtchen hörte nicht auf zu jammern.
»Als Vati Mutti ein Kindchen machte, spielten sie wieder miteinander, und das Leben war wieder Friede, Freude, Eierkuchen. Mutti wurde rund wie ein Vogelei, und so geschah es, dass sie aufhörte zu arbeiten und ein gemütliches Nest baute. Doch auch Mutti fing an, sich zu langweilen, und während Vati einkaufen war, schnüffelte sie in seinen Sachen herum.«
Das Weinen wurde lauter, aber Verbist blieb eiskalt. Sein starrer Blick wurde grimmig.
»Und so geschah es, dass Mutti eines Tages Vatis kleines Geheimnis entdeckte. Dabei grub sie nicht mal den Schädel aus. Doch sie steckte sich Vatis Flinte in den Mund, und ihr Gehirn spritzte an die Tapete. Vati, der fröhlich von seinen Besorgungen nach Hause kam, fand Muttis sterbliche Überreste und geriet in Panik.«
Das Weinen wurde zu schrillem Sirenengeheul.
Endlich schien Verbist zu erwachen und blickte erstaunt auf.
Hätte ich ihr lieber vorlügen sollen, dass Mutti im Kindbett gestorben ist oder so ähnlich? Nein, sie will die Wahrheit, also bekommt sie die Wahrheit. Offen und ehrlich, keine Geheimnisse mehr.
Er streichelte dem schreienden Wichtchen über den Bauch, aber sie strampelte noch stärker. Er umklammerte ihre Handgelenke, presste seine Lippen an ihr Ohr und entblößte die Zähne.
»Du willst es wissen? Okay! Während das Kindchen langsam in Muttis leblosem Bauch erstickte, trank Vati in der Kneipe ein paar Bier und dachte nach.« Das Flüstern wurde lauter. »Vati wusste nicht mehr ein noch aus. Das Kindchen war in Muttis Bauch erstickt.« Die Worte kamen in einem abgehackten Stakkato. »Vati ruft die Polizei. Kindchen blieb bei Mut-ti. Va-ti blieb bei Va-ti.« Verbist brüllte aus vollem Hals. Dann flüsterte er mit letzter Kraft: »Vati lebte noch lange und unglücklich und verabscheute sich wie ein Fisch den Wurm, der ihm zum Verhängnis geworden ist. Beide erstickten.«
Als Herman Verbist vornüber kippte, hörte das Schreien auf.
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Donnerstag, 27 . November – 2 Uhr 37
D ie Frau gähnte, griff neben sich und nahm das Handy vom Nachtschränkchen. Während sie sich die blondierten Haare aus dem Gesicht strich und sich den Schlaf aus den Augen rieb, lächelte sie flüchtig.
Tom.
»Hallo?«
Die Mundwinkel der Frau – dreiundvierzig Jahre alt, geschieden – wanderten nach unten. Diese krächzende Männerstimme, das war nicht Tom.
Ihr Steward, den sie in der Disco kennengelernt hatte und der in diesem Moment irgendwo hoch über den Wolken schwebte, hatte eine sanfte, fast weibliche Stimme.
»Hallo, wer ist da?«
»Sandra Janssens?«, fragte jemand rauh.
»Bei Ihnen piept’s wohl!«, rief sie und verfiel dabei in einen starken Antwerpener Dialekt. »Wissen Sie, wie spät es ist?« Sie sah auf ihre überdimensionale Armbanduhr.
»Spreche ich mit Sandra Janssens?«
»Nein, mit Sandrina Janssens! Wer ist denn da? Bist du das schon wieder, Juri? Es ist aus und vorbei, dass du’s weißt!«
Ein heiserer Fluch, gefolgt von einem lauten Klicken, beendete die Konversation.
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Donnerstag, 27 . November – 2 Uhr 47
H erman Verbist presste das Gesicht tief in das Bettzeug, aber es nützte nichts. Dröhnende Bässe und flackerndes Stroboskoplicht. Sein Kopf explodierte. Eine rosarote Pilzwolke breitete sich langsam aus und hüllte die Welt in eine undurchdringliche Gardine des Selbstmitleids. Der Nebel fühlte sich klebrig an. Man konnte kaum noch atmen. Die Kontamination war absolut und unumkehrbar.
Als er den Oberkörper leicht aufrichtete und die Augen öffnete, sah Wichtchen ihn fragend an. Sie steckte ihr Händchen in seinen Schoß, lächelte zögernd und hustete.
Verbist rappelte sich mühsam auf und streichelte ihr den Rücken. Er deckte sie gut zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihre großen blauen Augen blickten reuevoll, und Verbist hatte Mitleid mit ihr.
Er rollte sich auf den Rücken, und während er an die gräuliche Decke starrte, wartete er reglos ab.
Plötzlich stieg dampfender Schleim aus seiner Nase auf, bildete einen fleckigen Film an der Decke, tropfte in seinen Mund und stieg durch die Nase wieder auf.
Der Kreis hatte sich geschlossen. Er erstickte an sich selbst.
Verbist bewegte sich nicht und beobachtete das Geschehen voller Grausen. Die Halluzination war so realistisch, dass er vor Angst am ganzen Körper zitterte.
Als es ihm endlich gelang, die Augen zu schließen, war er kaum zehn Zentimeter groß und
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