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Bostjans Flug - Roman

Bostjans Flug - Roman

Titel: Bostjans Flug - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sich begrabend. Boštjan hört durch die Zimmerdecke, wie die Nägel aus dem Dach springen und die Schindeln krachend über den Hof fliegen, wie der Wind um die Ecken pfeift; in der Bienenhütte bersten die Stöcke, ein
Schwarm verdunkelt den Horizont; der Steinboden im Vorhaus wirft sich mit einem Knall auf, in der Uhr schnarrt es, die Fensterscheiben klirren in den Rahmen, aus der Kredenz und dem Schüsselgestell stürzen Besteck und Geschirr scheppernd auf den Boden. Der Lärm läßt das Blut erstarren, so viel angesammelte, vorzeitig verrichtete Angst staut sich in den Adern, daß es für das ganze Leben reicht. Boštjan wagt es nicht, seine Beine im Bett auszustrecken, und hält sie die ganze Nacht zu einem Knäuel verkrümmt.
    Am Morgen, als es hell wird, ist alles wieder an seinem Platz, die Schindeln auf dem Dach, die Fenster in den Rahmen, das Besteck und die Gefäße wo sie hingehören, es fliegen die Bienen wie immer, die Dachrinne knarrt nicht mehr so schaurig in den Halterungen, auf der Tratte und in der Holzhütte keine Spuren von dem Unwetter. Die Tödin hat nur ein bißchen gespielt, als sie mit ihrer Gefolgschaft, ihrer Sturmmusik, die Großmutter holen kam, und dann ruhig die Klinge in die Scheide eingezogen. Nicht einmal ein Ächzen entrang sich aus Großmutters Brust. Ihr Geist machte sich schmal, stahl sich an Boštjans Lager vorbei, schlüpfte durch die Ritzen und drückte sich in dem Augenblick flach zu Boden, als ein Windstoß Boštjan die Luft nahm und er nicht verhindern konnte, daß Großmutters schwindender, sich verflüchtigender Geist wirbelnd durch die Risse entkam. Er erwachte aus seinem Knäuel und setzte sich im Bett auf. Der Wind pfiff so scharf an seinem Kopf vorbei, daß es ihm den Atem verschlug und er zu ersticken meinte, aber nur im ersten Moment. Später, als er noch immer nicht zu Atem kam und selbst nicht wußte, wie lange er schon nicht mehr atmen mußte, gewöhnte er sich daran, ohne Atmung auszukommen, nahm am Sterben der Großmutter teil, schloß sich
ihm an, auch seine Seele begann sich aufzulösen und sickerte durch die Sprünge in der Mauer; er hatte seinen Teil bei ihrem Tod erbracht. Die Großmutter war gegangen, nun galt es, heimlich, still und leise mit ihr zu verfahren. Der leere Körper, der sich gestern abend noch gegen die Eindringlingin gewehrt hatte, lag neben ihm, nur noch ein unbestimmbarer Fetzenhaufen. Jetzt hatte es ihn hinüber auf die andere Ebene gespült, ihn zersetzt und in die Gruben, Furchen und Mulden um das Haus gepreßt. Die Großmutter blieb, wie sie war, nahm die Fasern ihrer Existenz auf und verspann sie zu Grashalmen. Von nun an wird sich die feiner gewordene Haut ihres Geistes über die Bodenerhebungen wölben, eine Ewigkeit und noch zwei Tage über die krumme, rohe Welt, wird die Mauern überziehen, in weitem Umkreis die Kare umspinnen, die Wege und Stege, wird die Bäume und Bergkämme bereifen. Der Pfarrer, im unklaren gelassen und in die Irre geleitet, verrichtete die Totengebete. Man beerdigte sie im Grab ihres Mannes; sie legte sich unter ihn, seine Gebeine kamen über ihr zu liegen und begannen endlich wieder auf ihr zu klappern. Der Großvater war eben noch immer, noch dort unten ein ganzer Mann.
    Die methusalemische Matilda, voller Härte und Schläue, war der alten Großmutter zuvorgekommen. Alle Gewitztheit der Großmuter hatte nichts gefruchtet. Die Großmutter, letzte Wächterin des Elternhauses, starb in ihrem Stübchen, als der Wasserholunder in weißer Blüte stand, der Rotklee loderte und niemand recht wußte, wie und wohin mit dem Begräbnis, diesem niederschmetternden Ereignis am falschen Ort und zur falschen Zeit. Die Großmutter, seine persönliche, letzte und einzige Hüterin, hatte ihn einst in den Markt geführt, um ihn vor der Gelehrsamkeit zu bewahren, überflüssig und ebenso nutz
los für das Leben in diesen Bergen wie die Schönheit. Sie hatte im Markt unten ersucht, mit der Einschulung zu warten, bis der Bub dem beschwerlichen Weg gewachsen sein würde, aus Angst, er könnte sich vor lauter verwirrenden Abzweigungen oder zwischen den fremden Straßen und Gebäuden verlaufen, unter einer Schneelawine umkommen. Schulgehen, das hieß den Kopf in die Hand und die Beine unter den Arm nehmen, es war für sie ein aufschiebbares Risiko. Doch sie scheiterte, Boštjan wurde nicht freigestellt. Nach jenem lauten nächtlichen Todesreigen war es offensichtlich, daß es niemanden mehr gab, der ihn bewahren würde vor den

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