Bote ins Jenseits
es auszusprechen, aber er brauchte Gewissheit.
»Und… was genau ist mein Ziel?«
Xaver setzte wieder sein Sonntagslächeln auf und antwortete mit feierlicher Stimme.
»Wir sind auf dem Weg zur vierten Ebene des Jenseits.«
Kamp spürte das spirituelle Äquivalent einer Gänsehaut.
»Wow! Ähm… wo genau liegt diese vierte Ebene, wenn ich fragen darf?«
Xaver sah ihn verdutzt an.
»Himmel oder Hölle?«, schob Kamp hinterher.
»Ah, verstehe. Geh ich recht in der Annahme, dass du einen christlichen Glauben praktiziert hast?«
»Na ja, praktizieren ist übertrieben.«
Kamp spürte jetzt sogar das spirituelle Äquivalent der Schamesröte.
»Wissen Sie, ich war da nie so wirklich aktiv. Irgendwie bin ich immer drüber weggekommen. So ein Tag hat nun mal nur vierundzwanzig Stunden und die reichen einem Mann in meiner…«
»Evangelisch oder katholisch, oder was?«, unterbrach Xaver ungeduldig.
Kamp sackte in sich zusammen und wurde kleinlaut.
»Katholisch.«
Der Mann nickte. »Geht doch! Also, eine Hölle, wie du sie dir vorstellst, so mit Teufel, Feuer, stundenlangem Auspeitschen und ähnlichen Scherzen, gibt es gar nicht. Es gibt nur das Jenseits, einen Ort, der eurer Vorstellung eines Himmels relativ nahe kommt.«
»Ach?«
Kamp war erleichtert. Seine Mutter hatte immer versucht, ihn und seine Schwester zu regelmäßigen Kirchgängen zu überreden, wenigstens an den Feiertagen. Es gelang ihr jedoch nicht, dem Glauben im Leben ihrer Kinder eine größere Bedeutung zu verleihen. Aus Kamps Sicht war es früh genug, wenn er sich im hohen Alter der Frömmigkeit widmete, um sich noch seinen Platz im Himmel zu erschleichen. Er hatte schließlich nicht ahnen können, dass es ihn schon mit Anfang dreißig erwischen würde.
»Wird es noch lange dauern, bis wir da sind?«
Xaver warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Hör mal, es gibt keinen Grund zur Eile. Du glaubst ja gar nicht, wie viel Zeit du jetzt hast. Aber wenn du es unbedingt wissen willst, wir werden noch etwa zwei Tage…«
»Zwei Tage?« Kamp sah sich in dem Raum um und wurde hektisch. »Aber… ich sehe hier keine Betten, nicht mal einen Stuhl. Außerdem brauche ich mein Insulin, ich bin Diabetiker. Und was machen wir, wenn wir Hunger oder Durst haben? Oder mal müssen?«
Xaver ließ die letzten Reste seiner professionellen Freundlichkeit fallen. Er wusste, was man von ihm erwartete. Wieder und wieder war er nach der Zuteilung seiner Aufgabe darüber belehrt worden, dass Situationen wie diese keine Seltenheit sein würden. Damals fühlte er sich noch stark genug, um diese Verantwortung zu tragen, und war durchdrungen gewesen von guten Vorsätzen – wie das eben so läuft, wenn man noch nicht oft genug auf die Schnauze gefallen ist.
Über so viel Idealismus konnte Xaver inzwischen nur noch den Kopf schütteln und bedachte Kamp mit dem Blick eines Mannes, in dem schon vor langer Zeit die Erkenntnis gereift war, dass er doch den falschen Beruf gewählt hatte.
»Du… bist… tot! Diese Dinge, von denen du da redest, schlafen, essen, trinken, schwere Beine, volle Blase oder eine verkorkste Gesundheit, sind körperlich… sind menschlich. Du bist aber kein Mensch mehr, du bist, um es mit der Terminologie deiner ehemaligen Konfession auszudrücken, die Seele eines Menschen, befreit von der Last ihrer sterblichen Hülle. Finde dich damit ab. Freu dich darüber! Wenn du die richtigen Entscheidungen triffst, kann es ab jetzt nur noch besser werden. Ich weiß um die Macht menschlicher Gewohnheiten, du bist beileibe nicht der Erste, den ich eskortiere. Ich weiß aber auch, wie unnütz diese Gewohnheiten sind, und es macht mich rasend, dass ihr Seelen das anscheinend nicht begreifen wollt!«
Kamp war eingeschüchtert. Er konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt jemandem gelungen war, ihn einzuschüchtern. Es musste an der Situation liegen, schließlich befand er sich auf neuem Terrain. Auch wenn er religiös nicht sehr aktiv war, hatte er doch eine ganz andere Vorstellung von Engeln… wenn dieser Mann überhaupt ein Engel war. Nach seinen Umgangsformen zu urteilen, kam das eigentlich kaum in Betracht, und abgesehen von den Abzeichen auf seinem Overall, hatte er auch keine Flügel.
Er hätte ihn gern gefragt. Er hätte auch gern das Thema Bedürfnisse etwas ausführlicher behandelt, aber nach dieser Standpauke traute er sich nicht und zog sich schmollend in eine Ecke zurück.
So standen Kamp und Xaver eine ganze Weile schweigend nebeneinander
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