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Bote ins Jenseits

Bote ins Jenseits

Titel: Bote ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hauke Lindemann
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konzentrieren. Er ertappte sich dabei, Angst zu haben. Angst, zu sehr abgelenkt zu werden und zu vergessen, Angst, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Daher vermied er es sogar, zum Dom zu gehen oder es sich an der Uferpromenade der Rheinimitation gemütlich zu machen. Wenn er erst anfangen würde, sich heimisch oder sogar wohlzufühlen, wäre es mit seinen Rachegelüsten womöglich vorbei. Es war ihm aber wichtig, sich zu rächen, und es fühlte sich richtig an, es zu wollen.
    Das, was er seinem Betreuungsboten sagte, war sein voller Ernst. Er würde niemals in der Lage sein, diesen Gedanken einfach zu verdrängen. Nicht den Namen seines Mörders zu kennen, würde ihn innerlich auffressen.
    Am dritten Tag musste er etwas unternehmen. Die Ungeduld zerriss ihn förmlich. Sein Betreuungsbote stand kurz davor, ihm Hausverbot zu erteilen, und die räumliche Nähe zu Gregors Büro wirkte wie Sirenengesang auf ihn.
    Dann hatte er die rettende Idee. Es hatte schon einmal geklappt, warum sollte es nicht auch ein zweites Mal funktionieren? Er stellte an seiner Armbanduhr eine Weckzeit ein, legte sich aufs Bett, dachte ans Schlafen und schloss die Augen.
    Der Piepton der Uhr erklang. Wie schon vor ein paar Tagen war er sicher, die Augen vor höchstens einer Sekunde geschlossen zu haben. Ein Blick auf die Uhr, und er schüttelte verblüfft den Kopf. Es funktionierte tatsächlich, er hatte den dritten Tag komplett verschlafen! Fast ärgerte er sich, dass ihm diese Idee nicht schon früher gekommen war. Er hätte sich eine Menge Langeweile und seinem Betreuungsboten eine Menge Ärger ersparen können.
    Aber egal, sein Ziel war erreicht. Die vier Tage waren um, und er würde sich gleich auf den Weg zu Gregor machen. Da er überhaupt keine Vorstellung von der Arbeitsweise eines Vergeltungsboten hatte, platzte er vor Neugierde. Er musste sich regelrecht zwingen, den Weg zu Gregors Büro nicht zu rennen. Wie ein kleines Kind, kurz vor der Bescherung, empfand er eine ungeduldige Vorfreude. Endlich würde sein Verlangen nach Rache Formen annehmen.
    Er ahnte nicht mal, wie konkret diese Formen sein würden.
     
     
    Nachdem er zum dritten Mal an Gregors Tür geklopft hatte, ohne eine entsprechende Reaktion zu erhalten, wurde er nervös. Er wäre ohne zu zögern einfach hineingegangen, aber die Tür war verschlossen. Mit Mühe und Not gelang es ihm, diese vier Tage hinter sich zu bringen, und jetzt schien der Kerl nicht da zu sein!
    Er spähte durch ein Fenster und sah nur ein unaufgeräumtes Büro. Kein Gregor und auch keine Praktikantin weit und breit. Wie es schien, musste er es später noch mal versuchen. Enttäuscht ging er zurück zum Fußweg, als er ein Klacken hörte und eine Frau ihren überwiegend aus dicken Sommersprossen und feuerroten Haaren bestehenden Kopf aus der Tür steckte.
    »Hast du gerade geklopft?«
    »Ja! Ich möchte zu Gregor. Wir waren für heute verabredet.«
    Die Frau machte die Tür ganz auf und trat zur Seite. Sie trug auch einen Overall, hatte aber keine Abzeichen auf ihren Ärmeln. Sie schien, rein äußerlich, in etwa so alt wie er selbst zu sein.
    Eine Erkenntnis suchte sich diesen Moment aus, um in sein Bewusstsein vorzudringen. Alle Seelen, denen er hier schon begegnet war, und auch alle Boten, mit denen er es zu tun bekam, schienen nie älter als Mitte dreißig zu sein. Er hatte noch niemanden gesehen, der älter aussah. Dabei war es doch eher die Regel, in einem stark fortgeschrittenen Alter zu sterben. Die plötzliche Erkenntnis ließ ihn einfach nur stumm dastehen und die Frau anstarren.
    »Du kannst ruhig reinkommen. Gregor müsste gleich zurück sein. Bis dahin kannst du mit mir vorliebnehmen… wenn es dir nichts ausmacht«, sagte die Frau ein wenig nervös. Kamps Starren war ihr nicht entgangen.
    »Nein, nein. Kein Problem.«
    Er ging an ihr vorbei, steuerte direkt das unverändert rummelige Büro an und setzte sich auf den einzigen freien Stuhl. Sie folgte ihm, räumte Papiere zur Seite und setzte sich ebenfalls. Zu Kamps Enttäuschung fragte sie nicht, ob sie ihm etwas anbieten könnte. Stattdessen saß sie einfach nur da und lächelte verlegen.
    Auf Kamp war in dieser Beziehung Verlass. Ihm schwirrten genügend Fragen durch den Kopf, die einem peinlichen Schweigen keine Chance zur Entfaltung ließen.
    »Mir ist da gerade etwas aufgefallen, vielleicht kannst du mir da weiterhelfen. Alle hier im Jenseits scheinen nicht älter als irgendwas um die dreißig zu sein. Ich habe noch keine

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