Bote ins Jenseits
äußerlich alten Seelen oder Boten gesehen. Woran liegt das?«
Die Frau sah ihn verblüfft an und schien ernsthaft über seine Frage nachzudenken.
»Du hast recht! Jetzt, wo du es sagst. Das ist mir noch gar nicht so richtig bewusst geworden.«
Sie blickte auf ihre Hände, öffnete den Klettverschluss ihrer Ärmel und schob sie hoch, um ihre bemerkenswert gesprenkelten Arme genauer zu inspizieren. Was sie sah, schien sie gleichermaßen zu erfreuen und zu verwirren.
»Sehe ich denn auch jung aus?«
»Ja. Mein Alter würde ich schätzen, Anfang dreißig.«
Sie betastete ihr Gesicht und wirkte jetzt ernsthaft entzückt.
»Das ist ja ein Ding. Ich war achtundsechzig, als ich hierherkam. Ich wusste gar nicht, dass ich wieder jung aussehe. Hier gibt es ja leider keine Spiegel.«
Kamp beobachtete sie genau. Er argwöhnte, dass sie sich einen Scherz mit ihm erlaubte, aber sie schien wirklich überrascht von dem, was er ihr gerade gesagt hatte.
»Wie lange bist du denn schon hier?«
»Seit dreißig Jahren«, antwortete sie, ohne den Blick von ihren Armen zu lösen.
»Und dir ist nie aufgefallen, dass hier keiner alt aussieht?«
»Nein, wirklich nicht! Erst jetzt, wo du davon gesprochen hast.«
Kamp schnaubte. Ausgerechnet einer Frau fiel das nicht auf. Wenn man sich auf Erden darauf einließ, das Alter einer Frau zu schätzen, und dabei auch nur ein Jahr zu hoch ansetzte, konnte man in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Die Abwesenheit von Spiegeln ließ offenbar die Eitelkeit sterben.
»Bist du die Praktikantin, von der Gregor mir erzählt hat?«
»Oh, entschuldige. Ja, das bin ich. Ich heiße Fiona… noch zumindest.«
Sie fing an, ihm von ihrer Ausbildung an der Botenakademie und ihren Beweggründen zu diesem Schritt zu erzählen.
Kamp erfuhr einige interessante Dinge. So hatten nie zwei Boten den gleichen Namen. War der Wunsch- oder Geburtsname schon vergeben, musste man sich einen ausdenken. Seelen von Kindern oder gar Säuglingen wurden direkt in die Botenausbildung übernommen. Gregor zum Beispiel war noch nicht mal ein Jahr alt gewesen, als er im Jenseits eintraf.
Das Verlockende an einer Botenkarriere war nicht etwa eine hohe Bezahlung, die es, wie Kamp schon von Gregor erfuhr, nicht mal in geringen Ausmaßen gab, sondern die Ausstattung mit gewissen Fähigkeiten und Befugnissen, die mit steigendem Rang immer umfangreicher wurden. Kamp sollte schon in naher Zukunft einige davon kennen, schätzen und fürchten lernen.
Es entwickelte sich ein sehr angenehmes und aufschlussreiches Gespräch. Die Zeit verging wie im Flug, sodass er es nicht als schlimm empfand, schon seit zwei Stunden zu warten, als Gregor endlich eintraf. Der stapfte, beladen mit zwei prall gefüllten Beuteln, ins Büro und ließ sie, begleitet von einem Seufzer der Erleichterung, direkt im Eingang fallen.
»Ah, Thore. Ich grüße dich. Tut mir leid, dass du warten musstest, aber ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen. Fiona hast du ja sicher schon ausgiebig kennengelernt?«
Kamp nickte und lächelte sie an.
»Gut! Fein! Ich räum grad die Säcke leer und komme dann sofort zu dir.«
Ächzend hob er die Säcke wieder an und warf seiner Praktikantin einen strengen Blick zu.
»Ich sehe gar keine Tassen. Hast du unserem Klienten etwa nichts angeboten?«
»Oh…«
»Thore trinkt schwarzen Tee ohne alles. Was bist du nur für eine Gastgeberin?«
Sie ging ihm nach. Kamp hörte, wie sich die beiden miteinander unterhielten, konnte aber nicht verstehen, worum es ging. Gregors Tonfall deutete jedoch nicht auf eine Standpauke hin.
Kurze Zeit später kam Fiona mit einem großen, verlockend dampfenden Becher in der Hand zurück und stellte ihn auf den Tisch.
»Tut mir leid. Wir haben so nett geredet. Ich hab einfach nicht daran gedacht.«
Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Das macht doch nichts. Ich wäre schon nicht verdurstet, selbst wenn ich gewollt hätte«, frotzelte Kamp.
»Das ist allerdings wahr.«
Gregor kam mit einer Zigarette im Mundwinkel dazu.
»Red dich nicht raus! Ich hab deinen gierigen Blick von neulich noch sehr gut in Erinnerung. Ich glaube, du brauchst dringend einen Job.«
»Hab ich auch schon dran gedacht. Aber bevor das hier nicht abschließend geklärt ist, werd ich mich nicht darum kümmern können. Ich hätte den Kopf nicht frei.«
Der Bote nickte und blies Rauch durch seine Nase.
»Kann ich verstehen.«
Er setzte sich an den Schreibtisch, griff zielstrebig nach einem der Papierstapel und
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