Bote ins Jenseits
auch nur in die Nähe einer Hölle zu gelangen.
Erdacht wurden all diese Regeln aber von Menschen.
Die Mächte des Jenseits hielten es nicht für nötig, sich in diese Dinge einzumischen. Wer seines Nächsten Mann oder Weib begehrte und damit den unwiderlegbaren Beweis seiner Menschlichkeit erbrachte, kam nicht automatisch als Sünder auf die andere Seite. Gewiss konnte man geteilter Meinung sein, ob es moralisch in Ordnung war, die Ehe zu brechen. Da aber auch sie nur eine Erfindung der Menschheit war, abermals ohne jede Beteiligung höherer Mächte, gab es an der betreffenden Seele nach Beendigung ihres Lebens im Prinzip nichts auszusetzen.
Eine Sache wurde jedoch auch im Jenseits als nicht akzeptabel betrachtet. Wer einem anderen Menschen, ohne Not und aus niederen Beweggründen, das Leben nahm, konnte sich auf etwas gefasst machen.
Alles, was man im Jenseits über die eingetroffenen Seelen wusste, war ihr Geburtsdatum, ihr geplanter Todestag und ob sie sich dieses schweren Vergehens schuldig gemacht hatten. Die Seele eines Mörders verdiente eine Extrabehandlung.
Es gab eine Zeit, in der man ernsthaft darüber nachdachte, eine Art Hölle zu generieren, in die man all die Seelen verbannen würde, die sich schuldig gemacht hatten. Da dies aber eine Strafe gewesen wäre, die einen eigenen Verwaltungsapparat benötigte und damit auch eine große Anzahl Boten getroffen hätte, sah man schließlich davon ab.
Stattdessen entschied man sich, diese Seelen zur Reinkarnation zu zwingen. Als eine Lebensform, die viel Zeit und Gelegenheit haben würde, über ihre Taten nachzudenken, ohne ihr die Möglichkeit einzuräumen, sich des gleichen Verbrechens wiederholt schuldig zu machen. Man kam schnell dahinter, dass die Wiedergeburt als Baum dafür eine geradezu perfekte Lösung war. Für viele Jahre stumm in der Gegend stehen, das bunte Treiben um sich herum mit ansehen müssen, ohne daran Teil zu haben, möglicherweise gefällt oder sogar brandgerodet zu werden… eine überaus angemessene Strafe. Und auch nur ein kleines bisschen grausam. Die Erfolgsquote gab ihnen letztlich recht. Die meisten kamen geläutert wieder.
Angerechnet wurde bei der Wahl des Strafmaßes, ob und wie man während seines irdischen Lebens für die Tat büßen musste. Leider gab es immer wieder Fälle, in denen die Täter auf Erden unentdeckt blieben, ein Umstand, der bei den Seelen der Opfer oft Verbitterung auslöste. Es erschien nur gerecht, wenn man einer solchen Seele die Möglichkeit einräumte, ihren Peinigern bereits zu Lebzeiten einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Diese Aufgabe teilte man den sogenannten Vergeltungsboten zu. Mit ihrer Hilfe konnte man sich für ein erlittenes Unrecht revanchieren. Ihr Aufgabenspektrum umfasste natürlich nicht nur Rache. Man nahm ihre Dienste auch dann in Anspruch, wenn man zum Beispiel einem geliebten Menschen noch etwas mitzuteilen hatte oder eine wichtige Aufgabe beendet werden musste. Es stellte sich jedoch sehr schnell heraus, dass der Löwenanteil ihrer Arbeit aus Rache bestand.
Toni empfahl Kamp einen Vergeltungsboten namens Gregor. Bis vor Kurzem hatte er mit Roberto, einem der besten und anerkanntesten Vergeltungsboten der ganzen zweiten Ebene zusammengearbeitet und sein Handwerk von ihm erlernt. Robertos Beförderung in den vierten Rang sorgte dafür, dass Gregor seit einiger Zeit allein arbeitete und sich beweisen konnte. Es brachte einen in der Hierarchie der Boten gewaltig nach vorn, wenn man eine Vergangenheit als erfolgreicher Vergeltungsbote vorweisen konnte. Es war das Karrieresprungbrett. Die Mehrheit aller Domestiken konnten auf eine solche Vergangenheit zurückblicken, und das sprach für sich.
Der Busfahrer hielt und rief Kamp zu, dass er sein Ziel erreicht hatte. Kamp stieg aus und sah sich um. Wenn man die Straße fast bis zum Ende fuhr und die letzte Möglichkeit rechts nahm, war man bei seiner Wohnung. Eine Strecke, die er ohne Weiteres zu Fuß laufen konnte. Sehr praktisch.
Die Bushaltestelle war direkt vor dem Gebäude, in dem der Vergeltungsbote seiner Berufung nachging. Neben dem Eingang hing ein großes weißes Schild, wie Kamp es von Anwaltskanzleien oder Ärzten kannte:
GREGOR
VERGELTUNGSBOTE DES 3. RANGES
SCHÜLER VON ROBERTO
Das klang wie Reklame und sollte es wohl auch sein. Anscheinend wusste der gute Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Kamp klopfte an die Tür. Gregor war der erste Bote dritten Ranges, mit dem er es zu tun bekommen sollte, und
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