Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
funkelnde Lichtermeer, das sich unter ihr ausbreitete. Und träumte.
Eine Stadt von oben zu betrachten, hat immer etwas Magisches. Man fühlt sich sonderbar privilegiert, als wäre man von der Ansammlung von Häusern und Autos in gewisser Weise getrennt, und von den Menschen, die wie fleißige Ameisen in der Tiefe herumwuselten. Ein bisschen so, als könnte man sich von dort oben über all das ein Urteil bilden.
Von hier oben war es möglich, Teil der verrückten Welt zu sein und sie zugleich mit Abstand zu betrachten. Das machte diesen Ort so besonders.
Manchmal, wenn sie ihrem Tagebuch nichts zu berichten hatte, blickte sie lange auf die Straßen hinunter, auf die Menschen, die Vorahnungen, den unregelmäßigen Puls des modernen Lebens. Manchmal widmete sie einem, der sich von der Masse abhob, ein paar Verse, ein andermal war es ihr gar nicht möglich, in dem Gewusel von grauen Anzügen überhaupt ein Individuum auszumachen. Dann widmete sie die Verse nicht dem Einzelnen, sondern der Menge, verfasste ein paar Zeilen über die Entfremdung des Menschen, der sich in der Anonymität der Masse verloren hatte, und Tanya freute sich darüber, anders zu sein als sie.
So füllten sich Tag für Tag die Seiten ihres Tagebuchs.
An diesem Abend hatte sie ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Aber wie sollte sie es formulieren? Liebes Tagebuch, heute war ich die Hauptdarstellerin beim jährlichen Wettbewerb der Hochbegabten. Ich habe auf beeindruckende Weise gewonnen und allen gezeigt (vor allem diesem eingebildeten Velasco), wie unglaublich schlau ich bin. Nein, das war zu prahlerisch. Wenn sie später einmal, als ehrwürdige alte Frau, in ihrem eigenen Haus oder in irgendein trostloses Heim eingesperrt durch die vergilbten Seiten ihres Tagebuchs blätterte, wollte sie nicht verschämt, sondern stolz auf ihr Leben zurückblicken. Sie musste es also besonders gut formulieren, wenn sie nicht etwas erfinden wollte.
Außerdem war da die Sache mit dem Engel.
Wenn sie genauer darüber nachdachte, kam ihr die Sache lächerlich vor. Bestimmt war es nur die Erschöpfung gewesen. Wer sah schon mitten in der Großstadt einen Engel? Nur Wahnsinnige, oder jene, die schon mit einem Bein im Grab standen. Vielleicht auch der eine oder andere religiöse Fanatiker, der so tief in die Welt der Esoterik abgetaucht war, dass er in jedem banalen Gegenstand eine göttliche Botschaft zu erkennen glaubte, selbst in der Form einer Pommes.
Aber es war so unglaublich real gewesen … Tanya wusste natürlich, dass es unmöglich war. Dass es nur eine Art Wahrnehmungsverschiebung sein konnte, eine Differenz zwischen dem, was ihr Gehirn sehen wollte, und dem, was sie tatsächlich sah, hervorgerufen durch einen Rausch von Adrenalin. Trotzdem. Sollte ihr Gehirn sie wirklich nur überlistet haben, dann war es ihm verdammt gut gelungen.
Es klopfte an der Tür. An dem leisen gleichmäßigen Pochen erkannte sie ihren Vater.
»Komm rein! Ich bin beim Abschminken«, antwortete sie.
Das runde freundliche Gesicht Iljitsch Svarenskos erschien in der Türöffnung. »Na, mein Schatz, wie geht es dir? Fühlst du dich besser?«
»Ja«, seufzte sie, das Gesicht mit Reinigungslotion bedeckt. Aus Rücksicht auf die anderen Familienmitglieder schminkte sie sich seit einiger Zeit in ihrem Zimmer ab, um das Badezimmer nicht so lange zu sperren. »Danke, dass du mich so schnell da rausgeholt hast, Papa. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir dafür bin.«
Der Vater setzte sich zu ihr aufs Bett, auf den Bezug mit der Nagomu-Zeichnung, dem Logo des legendären J-Pop-Labels, das sie selbst in einem Copyshop hatte anfertigen lassen, an einer dieser Maschinen, die jedes beliebige Foto auf praktisch jede beliebige Oberfläche druckten.
»Was ist denn eigentlich los gewesen? War dir auf einmal alles zu viel?«
»Ja, irgendwie schon. Ich weiß nicht. Ich kann’s dir auch nicht genau erklären.« Nein. Nicht im Traum werde ich dir die Sache mit dem Engel erzählen. Obwohl ich wirklich gerne mit jemandem darüber reden würde. Aber ich kann es mir nicht leisten, dass mich jetzt auch noch meine eigene Familie für verrückt hält. Das tun schon genug Leute da draußen … »Wahrscheinlich die ganzen Kameras, die vielen Menschen. Der Druck war einfach zu groß.«
»Das verstehe ich. Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich fühlst.« Er dachte einen Augenblick nach. »Nein, eigentlich kann ich es mir gar nicht vorstellen. Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie es ist, so
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