Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
leben
das Unvorstellbare zu verkünden,
die Spiele der Unsterblichkeit zu spielen,
den Lichtern Namen von Lilien zu geben,
Lichtern, die
die makellose Verzweiflung des Himmels
mit Wegen beflecken.
Wofür sonst lebt der Falke,
wenn nicht,
um sich in die Lüfte zu schwingen
und niemals mehr
in den Sand zurückzukehren?
Wozu wäre der Himmel gut,
wenn es hier unten
keine Träume gäbe?
Wozu der Himmel gut wäre … ja, das war eine gute Frage. Luis war ein Meister der Lebensfragen. Er liebte es, alles im großen Stil zu machen: Seine Liebe erklärte er mit gewaltigen Pinselstrichen, mit großer Leidenschaft und endgültigen Gesten. Und mit übersinnlichen Briefen.
Dennoch war da etwas, das sie ihm bislang verschwiegen hatte. Ein Detail, das in diesem ganzen Liebestheater nicht ganz aufging. Aber bis sie sich nicht hundertprozentig sicher war, worum es sich handelte, wollte sie ihn lieber nicht beunruhigen.
Die Katze stellte ein Ohr auf und wandte es der Tür zu.
Sie wirkte nervös. Aber Tanya hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt. Vom anderen Ende des Flurs drang das leise Gemurmel des Fernsehers herüber (ihre Eltern schauten für ihr Leben gern Krimis, in denen Wissenschaftler mit Plastikbrillen vorkamen), und darüber lag, kaum hörbar, die sanfte Folkmusik ihres Großvaters, die er immer alleine in seinem Zimmer hörte.
»Was ist los, Kleine? Hast du etwas gehört?«
Bastet sprang auf. Sie wich von dem Brief in Tanyas Hand zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Sie fletschte die Zähne und fauchte, als wollte jemand sie in die Enge treiben. Dann verließ sie fluchtartig das Zimmer.
Tanya folgte ihr in den Flur, aber die Katze war schon verschwunden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Geräusche in der Wohnung eine sonderbare Qualität hatten. Als hätte die Luft selbst sie in ein vorübergehendes Labyrinth eingesperrt.
»Papa?«, rief sie. Keine Antwort, nur das metallische Rauschen des Fernsehers. »Mama, ist alles in Ordnung?«
Sie band sich den Kimono mit einem Doppelknoten zu. Dann ging sie langsam in Richtung Wohnzimmer. Als sie an der Tür ihres Großvaters vorbeikam, sah sie, dass unter der Tür ein blaues Gas nach draußen strömte. Es war sehr kalt. Man hätte meinen können, im Zimmer herrschten Temperaturen unter null.
»Opa? Geht’s dir gut?« Sie klopfte an die Tür. Aus dem Zimmer war nur ein sonderbares Kratzen zu hören, so als riebe jemand seinen Arm gegen raues Holz.
»Was ist denn hier los?«, murmelte sie. Sie ging weiter den Flur entlang bis zum Wohnzimmer.
Das schwache Licht des Fernsehers schimmerte durch das matte Glas der Wohnzimmertür am Ende des Flurs. Ihr Vater sparte schon seit Monaten darauf hin, dass sie endlich den alten Kasten wegwerfen konnten, der so viel wog wie ein kleiner Elefant und ungefähr ebenso viel Platz einnahm. Aber vor Ende des Jahres war da nichts zu machen.
Tanya öffnete die Tür. Die Angeln ächzten.
Auf den Anblick, der sich ihr dann bot, war sie nicht vorbereitet.
Der Fernseher lief zwar noch, aber niemand schaute hin. Der Bildschirm zeigte nur Schnee und Rauschen.
Ihre Eltern lehnten in den Sesseln, die Hände auf die Armlehnen gestützt, den Kopf in den Nacken gelegt, den Mund weit aufgerissen. Sie sahen aus wie Krüge, in die jemand blauen Nebel hineinfüllte. Die Schwaden waberten wie von selbst durchs Zimmer und verschwanden in der Kehle ihrer Eltern, während sie kleine blaue Blitze ausstießen.
Für einen kurzen schrecklichen Augenblick hätte Tanya schwören können, dass sie in dem Nebel Gesichter erkannte, Fratzen mit grausamen Augen, die sie anstarrten.
Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Die Szene war so abstoßend, dass sie instinktiv zurückwich und fast gegen die halb geöffnete Tür rannte. Sie musste etwas tun, um ihren Eltern zu helfen, um sie zu befreien … Aber was? Und wovon überhaupt? Wieder überkam sie dieses sonderbare Gefühl von Unwirklichkeit. Als hätte sie plötzlich alle Gewissheit über die Welt, in der sie lebte, verloren. Genau so hatte es sich angefühlt, als sie den Engel gesehen hatte. Und das war gerade mal ein paar Stunden her.
Die Panik, die von ihr Besitz ergriff, verhinderte jeden klaren Gedanken. Instinktiv griff sie zum Telefon. Ich muss die Polizei anrufen, die Armee, die Kriegsmarine … Sie müssen sofort kommen, alle!
Das Telefonbuch war im Fernsehschrank, aber sie dachte nicht daran, noch einmal ins Wohnzimmer zurückzukehren. Sie könnte versuchen, die
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