Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
einen Begabtenwettbewerb zu gewinnen. Ich war nie so klug wie du.«
»Du bist sehr klug«, empörte sich Tanya. »Du hast uns hierher gebracht. Du hast es geschafft, dass wir in dieser Stadt leben können. Ich wäre nie so intelligent gewesen. Ich hätte das nie geschafft.«
»Das hat doch mit Intelligenz nichts zu tun, Tanya. Das war List. Und Wille, purer Wille. Und Liebe zu denen, die von dir abhängig sind.«
»Wie viel Liebe braucht es, um seiner eigenen Tochter zu verzeihen, dass sie so dumm ist?«
»Dumm?«, wunderte er sich. »Warum glaubst du denn, dass du dumm bist?«
Tanya wischte sich mit einem feuchten Tuch über die Augenpartie und hinterließ eine dunkle Mascara-Spur auf ihrem Gesicht.
»Ihr wärt natürlich gerne noch da geblieben, um mit den anderen Eltern zu plaudern. Mama sagt ja immer, dass wir uns mehr integrieren und Kontakte knüpfen sollten. Und ich bin so dumm und will abhauen, bevor wir überhaupt den Pokal in den Händen halten.« Sie seufzte. »Bestimmt hätte ich ihn sogar entgegennehmen sollen.«
Iljitsch streichelte ihr über die Wange. Als er die Hand wieder wegnahm, waren seine Finger voller Creme.
»Deine Mutter und ich werden den Augenblick nie vergessen, als du die letzte Frage beantwortet hast. Du warst einfach super. Wir sind schon immer sehr stolz auf dich, aber heute … heute hat sich gezeigt, dass es nicht der natürliche Stolz ist, den alle Eltern für ihre Kinder empfinden. Du bist wirklich besonders.«
»Das sagen doch alle über ihre Kinder. Dass sie so toll und besonders sind und überhaupt.«
»Aber ich weiß, wovon ich spreche. Übrigens, wegen der Fotos brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Er lachte. »Wir haben es bis zum Schluss nicht geschafft, dieses Mistding zum Laufen zu bringen.«
Séfora erkannte sie wieder, als sie den Opernpalast verließen.
Sie waren vollzählig, zu sechst, nur tauchten sie jetzt nicht mehr als unwirkliche dunkle Schatten auf. Sie hatten feste Körper, waren greifbarer und auch gefährlicher als zuvor. Sie schnupperten die schmutzige Großstadtluft, als könnten sie inmitten all der Abgase eine unmögliche Fährte aufnehmen.
Natürlich konnten sie das. Sie waren Lamassu.
Sie setzten sich in Bewegung. Gen Norden, in dieselbe Richtung, die das Taxi eingeschlagen hatte. Es spielte keine Rolle, wie viel Zeit verstrichen oder wie groß die Entfernung war: Sie witterten die Fährte mit absoluter Klarheit.
Séfora musste unbedingt vor ihnen eintreffen. Sie spannte die Flügel ganz auf, wohl wissend, dass sie ihre spärlichen Kräfte damit stark strapazierte. Aber die Dämonen waren zu schnell, um noch länger herumzutrödeln. Sie bedienten sich nämlich eines Tricks, den nur sie beherrschten. Die Eingeweihten nannten diese Fähigkeit »die Dunkelheit auffädeln«. Sie sprangen von Schatten zu Schatten, immer weiter und weiter, mit erhobenen Nasen, um sicherzugehen, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
Séfora flog mit großen Flügelschlägen in die Richtung, die der Spiegel ihr anzeigte, und auf den hässlichen, abgebröckelten Klotz zu, in dem sich die schlechtesten Wohnungen der Stadt befanden und den die Leute einfach nur »den Wolkenkratzer« nannten. Genau genommen in den vierundzwanzigsten Stock auf der Südseite.
Dort befand sich nämlich ihr Zielobjekt, das sonderbare Mädchen. Und es war höchste Zeit, mit ihr in Kontakt zu treten, wenn sie sie nicht für immer verlieren wollte.
Tanya gönnte sich eine ausgiebige Entspannungsdusche. Es machte ihr nichts aus, ein bisschen mehr Wasser zu verbrauchen als nötig. Sie schäumte sich das Haar mit ihrem Spezialshampoo ein und blieb eine Weile unter der Brause stehen, ließ sich das Wasser auf die Schultern prasseln, bis sie schließlich, das Handtuch als Turban um den Kopf gewickelt, aus der Duschwanne stieg.
Sie lief nackt durch den Flur in ihr Zimmer (es störte sie nicht, wenn ihre Familie sie so sah, mit Ausnahme ihres Großvaters, der ein bekennender alter Lüstling war) und öffnete den Kleiderschrank. Neben ein paar bequemen Hosen und T-Shirts für zu Hause gab es eine große Auswahl an Kleidern, die den verschiedenen Ausprägungen der Lolita-Mode entsprachen.
Sie schob die aufwendigen Kleider beiseite, nahm einen Morgenrock im Kimonostil heraus, schlüpfte hinein und ließ sich aufs Bett plumpsen. Es war wirklich ein langer, anstrengender Tag gewesen. Aber ohne sich selbst rühmen zu wollen, musste sie zugeben, dass sie sich ganz gut geschlagen
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