Boy 7
bitte zur Redaktion der Time oder einer anderen großen Zeitung. Nur so kann man sie stoppen!
Das stand auf dem Deckblatt. In meiner Handschrift! Mein Plan – wie auch immer er aussehen mochte – war also aufgegangen. Ich hatte sogar gewusst, dass ich mein Gedächtnis verlieren könnte. Aber wie? Und wer waren diese ›sie‹?
Mit zitternden Fingern blätterte ich um.
Sie haben mir mein Leben weggenommen. Erst meine Kleidung und dann meinen Namen.
Ich sitze hier mit fünf anderen Jungs. Boys, so sprechen die Weißkittel uns an, wenn sie sich an die ganze Gruppe wenden. Und die Gruppe ist hier wichtig. Sie wollen nicht, dass wir Individuen mit eigenen Gedanken, Meinungen und Gefühlen sind. Uniformität ist der Zement unserer Organisation, behaupten sie. Darum müssen wir alle die gleiche Kleidung tragen und wurden zu Nummern degradiert. Buchstäblich. Mich nennen sie Boy Seven oder kurz Seven.
Louis – ein kluger, dunkelhäutiger Junge mit Kraushaar, dem die Weißkittel den Namen Boy Six gegeben haben – und ich teilen uns ein Zimmer. Er hat mir einen Stift besorgt, damit ich alles aufschreiben kann.
Schade, dass ich nicht auch eine Taschenlampe habe; der Streifen Mondschein, der durch das vergitterte Fenster über mir hereinfällt, spendet kaum genügend Licht. Weil es keinen Stuhl gibt, sitze ich auf meinem Kopfkissen auf dem kalten Boden. Alles hier ist kühl und kahl – das einzige Mobiliar besteht aus einem Etagenbett und einem Schrank – beides muss ich mir mit Louis teilen. In der Ecke befindet sich ein gekacheltes Mäuerchen, hinter dem ein Eimer steht, falls wir nachts pinkeln müssen. Tagsüber kann man das WC auf dem Flur benutzen, aber nach dem Abendsummer sind alle Türen verschlossen. Hoffentlich bekommen wir nie Durchfall.
Die erste Nacht in diesem Zimmer war die schrecklichste meines Lebens. Ich lag in diesem fremden, harten Bett und hatte mich noch nie so ängstlich und allein gefühlt. Louis schien zu schlafen, denn über mir war es still. Ich wäre auch gern eingedöst und hätte alles für einen Moment vergessen, aber mein Kopf war wie ein aufgezogener Wecker, der nicht aufhörte zu klingeln.
Ich dachte an mein eigenes vertrautes Zimmer zu Hause. An Kathys quengelige Stimme, wenn wieder einmal ein Monster unter ihrem Bett lauerte und ich sie begleiten sollte, um es zu verjagen. An meine Mutter, die von ihrem Abenddienst zurückkam, ihre Pflegerinnenschuhe mit den dicken Gummisohlen abstreifte und auf Feinstrumpfhosen nach oben schlich, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Wenn sie beruhigt war, huschte sie genauso leise wieder hinunter, um im Wohnzimmer die Spätwiederholung ihrer Lieblingssoap anzuschauen. In Gedanken sah ich sie dort sitzen, die tiefe Falte zwischen ihren Augenbrauen, und für einen Moment schien sie so echt, als bräuchte ich nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren ...
Jetzt weiß ich, was mit »krank vor Heimweh« gemeint ist. Ich sehnte mich so sehr nach meinem Zuhause, dass ich wie ein kleines Kind zu weinen begann.
Da stand Louis plötzlich neben mir und sagte: »Rutsch mal ein Stück.«
Normalerweiser würde ich einem Kerl, der versucht, in mein Bett zu steigen, eins auf die Nase geben, aber Louis’ Nähe reichte gerade, um die schlimmsten Monster zu verjagen. Er hat mir in dieser Nacht vermutlich das Leben gerettet.
Ich hatte eine Mutter und eine Schwester! Wie die wohl aussahen?
Ich habe übrigens noch gar nicht erzählt, weshalb ich hier sitze. In erster Linie, weil sie meine Mutter und mich hereingelegt haben, und zweitens, weil ich mir einen selten dummen Streich habe einfallen lassen. Na ja, ein paarmal denselben selten dummen Streich, aber erst beim dritten Mal wurde ich geschnappt.
Ich bin ziemlich geschickt mit Computern oder sagen wir: genial. Es hat mit Spielen angefangen, wie es so viele Leute machen, die ich kenne. Durchaus spaßig, keine Frage, aber irgendwann ähneln sich all diese Spiele. Also bin ich zum Spitzensport gewechselt. Cracken oder Hacken also, falls das jetzt noch nicht klar war. Es gibt einem wirklich einen Wahnsinnskick, wenn man die Firewall einer Bank knackt oder ein Netzwerk lahmlegt. Ja, natürlich weiß ich, dass so etwas nicht erlaubt ist, aber das war schon der halbe Spaß dabei. Und ich wollte nichts Böses. Jede Bank beschäftigt ein paar Hacker, die den ganzen Tag versuchen, ob sie die Sicherheitseinrichtungen durchbrechen können. Ich machte genau das Gleiche, bloß wurde ich nicht dafür bezahlt.
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