Boy 7
beim Frühstück.
»Was ist heute Nacht passiert?«, fragte ich leise. »Wir haben dich schreien hören.«
»Schreien?«, wiederholte er dösig.
»Bestimmt ein Albtraum«, sagte Two in seinem üblichen beruhigenden Ton.
»Er lag nicht im Bett«, sagte Louis. »Es kam vom Flur.«
Coach Two zuckte die Schultern. »Dann ist er wohl geschlafwandelt.«
»Ja, klar.« Trotz meines unbehaglichen Gefühls musste ich lachen. »Four ist heimlich so eine Art Uri Geller, der im Schlaf durch geschlossene Türen laufen kann.«
Louis schubste Five an. »Du weißt doch bestimmt, was passiert ist? Er liegt bei dir im Zimmer.«
Three hob einen Finger. »Wir wollten nicht mehr mit ihm reden, bis ...«
»Halt doch die Klappe«, sagte Louis.
Five kicherte anerkennend. »Ich habe nichts gemerkt, ich habe geschlafen wie ein Stein.«
Wie hatte er bei diesem Lärm einfach schlafen können?
Mir fallen nur zwei Erklärungen ein. Er lügt, weil ihm die Weißkittel das Schweigen auferlegt haben – vielleicht haben sie ihm wieder gedroht, ihn zu separieren. Oder noch schlimmer: Sie haben ihm irgendein Betäubungsmittel gegeben und ihn damit ausgeschaltet!
Es wurde übrigens noch viel bunter. Als wir in der Sportstunde wieder in die Seile mussten, kam Four wie üblich kaum hoch. Bis ihn der Weißkittel starr ansah. Four stöhnte kurz, als hätte er schreckliche Schmerzen, und begann auf einmal, wie ein Besessener zu klettern! Das Seil schwang in alle Richtungen und in seinen Augen stand Todesangst, aber ohne jeglichen Protest kletterte er höher und höher, tippte an die Decke und kletterte wieder hinunter.
Was haben die Weißkittel heute Nacht mit ihm angestellt?
Louis hat einem Weißkittel den Pass gestohlen.
»Darf ich mal kurz zur Toilette?«, fragte er gleich darauf.
Im Vorbeigehen zeigte er mir seine Handfläche mit dem Pass. Der Schlüssel zu unserer Freiheit! Ich begriff sofort, dass er nicht wirklich pinkeln musste. Er ist dann schnell nach oben gehuscht, hat unsere Zimmertür mit dem Pass geöffnet, seinen Schuh dazwischengestellt, damit sie nicht zufallen konnte, und hat den Pass an unserem geheimen Ort versteckt. Danach ist er in den Flur zurückgegangen, hat seinen Schuh wieder angezogen und ist nach unten gerannt.
Was für ein Glück, dass er ihn sofort versteckt hat! Kaum vermisste der Weißkittel seinen Pass, wurden wir alle gefilzt und es gab eine zusätzliche Zimmerkontrolle. Zum Glück kamen sie nicht auf die Idee, unsere Zimmerdecke zu inspizieren, und so wurde die Suchaktion ein paar Stunden später eingestellt.
Louis und ich haben vereinbart, ein paar Tage zu warten, bevor wir den Pass zum ersten Mal benutzen. Wir wollen schließlich keine schlafenden Weißkittel wecken.
Unsere Musterknaben Two und Three bekommen regelmäßig Freigang. Wahrscheinlich als Vorbereitung auf ihre baldige Entlassung. Das ist das Einzige, was mich aufrechthält: Boy One ist hier weggekommen, also wird es mir auch gelingen. Ich wünschte nur, es wäre schon so weit.
Five stänkert den ganzen Tag herum, wenn jemand durch das Tor darf. »Ich dachte, die Gruppe sei so wichtig? Warum dürfen wir dann nicht alle mit?«
Die Weißkittel machen den immer selben blöden Scherz: »Freigang muss man sich verdienen. Das ist kein Schulausflug.«
Sie messen mit zweierlei Maß. Strafen werden mit der ganzen Gruppe geteilt. Belohnungen nicht.
Es hat geklappt! Louis hielt den Pass an die Wand neben unserer Zimmertür. Schieben, suchen, noch einmal schieben, ich drückte die Klinke hinunter und dann auf einmal – Sesam, öffne dich – ging die Tür auf. Die Nachtbeleuchtung war eingeschaltet, wodurch es auf dem Flur zwar dämmrig, aber nicht stockfinster war. Aus den Zimmern der anderen Jungen drang kein Laut.
»Schlafmützen.« Louis huschte auf Strümpfen über das Linoleum. »Wenn sie wüssten, dass wir ...«
»Psst.« Ich erwischte ihn am Ärmel und zeigte erschrocken auf den Lichtstreifen am Ende des Flures. Und ob da jemand wach war!
»Bestimmt ein Nachtwächter«, flüsterte Louis.
Möglichst nah an der Wand entlang schlichen wir auf das Licht zu. Es kam aus dem vorletzten Zimmer. Als wir durch den Türspalt lugten, sahen wir tatsächlich einen Weißkittel. Er saß vor drei Monitoren und wandte uns den Rücken zu. Auf jedem Bildschirm war ein Grundriss zu sehen. Der erste musste von unserem Stockwerk sein – ich erkannte den Flur, den Duschraum und die Schlafräume. Der zweite war vom Erdgeschoss; ich sah die verschiedenen
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