Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
Nische am hinteren Ende des Korridors geflüchtet.
In dieser Schule gibt’s jede Menge origineller Sitzecken und Lesebuchten: manche hufeisen- oder L-förmig, manche halbrund. Verschwiegene Plätzchen mit Sitzsäcken, großen Fenstern mit Blick auf die New Yorker Skyline. In einem Gefängnis könnten einem solche blinden Ecken zum Verhängnis werden. Kein Wärter würde irgendwas mitkriegen. Aber hier nennt man so was alternative Lernumgebung.
Deshalb sind auch zwei Jungs gerade dabei, dem Loser eine Lektion zu erteilen, indem sie ihn windelweich prügeln.
»Aufhören!«, schreit das Käsegesicht.
Der Größere der beiden drückt ihn mit beiden Armen gegen die Wand. Es ist Justin, der Typ aus meinem Geschichtskurs, derwie ein Fußballer aussieht. Und er zeigt, was er draufhat. Er bearbeitet das Käsegesicht mit den Fäusten, während sein Kumpel, ein Junge mit speckigem Gesicht, feixend zuschaut.
Der Loser steckt die Prügel ein, ohne sich zu wehren. Gesenkter Kopf, hängende Schultern, baumelnde Arme. Er hält sich nicht mal die Hände vors Gesicht. Nicht die geringste Gegenwehr. Die haben sie offenbar aus ihm rausgeprügelt.
Eine brutale Machtdemonstration. Auf der ganzen Welt das gleiche Spiel.
Aber das darf mich jetzt nicht kümmern. Also gehe ich weiter den Flur entlang, behalte die drei aber im Auge.
Jetzt boxt Justin dem Loser in den Magen. Nicht mit voller Wucht, aber immerhin ist es ein gezielter Schlag in den Bauch. Das Käsegesicht sackt ächzend in sich zusammen.
Gnadenlos.
Ich könnte das in einer Sekunde beenden. Mit einem Räuspern. Einem drohenden Blick.
Ich könnte es aber auch auf andere Weise beenden. Und dafür sorgen, dass so was nie wieder passiert, dass Justin seinen Arm nur noch bis auf Hüfthöhe heben kann. Dann wär’s erst mal vorbei mit dem coolen Sportlerdasein oder was er sonst so nach der Schule treibt, um Mädchen ins Bett zu kriegen. Ich könnte sogar dafür sorgen, dass er seinen Arm nie mehr gebrauchen kann.
Aber damit würde ich meinen Job gefährden.
Der Loser stöhnt vor Schmerz. Ich ignoriere es und gehe weiter.
Ich halte mich raus. Das ist meine Strategie.
Aber die kann ich gleich wieder vergessen, als ich hinter mir eine Mädchenstimme höre.
Sams Stimme.
»Hört auf mit dem Scheiß!«, sagt sie.
Ich drehe mich um. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und funkelt Justin böse an.
Sie mischt sich ein. Das ist ihre Strategie. Wundert mich nicht.
Dass sie ausgerechnet jetzt aufkreuzt, ist allerdings Pech. Ich habe eine ideale Gelegenheit verpasst, bei ihr Eindruck zu schinden. Das sollte ich schleunigst nachholen.
»Halt dich da raus. Das geht dich gar nichts an«, sagt Justin zu ihr.
»Und ob mich das was angeht.«
Justin baut sich drohend vor ihr auf. Er überragt sie um gut zwanzig Zentimeter und bringt bestimmt vierzig Kilo mehr auf die Waage.
Doch das scheint sie wenig zu beeindrucken. Sie weicht keinen Millimeter zurück.
Alle Achtung.
»Na, was machst du jetzt, Sam? Flennend zu deinem Daddy rennen?«
Justin schnaubt verächtlich.
Jetzt wird’s Zeit, dass ich mich einschalte. Den Helden spiele. Das ist meine neue Strategie.
Ich gehe ein paar Schritte näher, interessiert, aber mehr nicht. Wie irgendein Schüler, der zufällig vorbeikommt.
»Was ist denn los?«, frage ich.
Ruhig und bedächtig, wie ein braver Bürger, der seine Pflicht tut, nicht wie jemand, der Krach schlagen will.
Justin sieht zu mir rüber. Dann dreht er sich wieder zu Sam um. Die Speckschwarte steht jetzt neben ihm. Ich mache einen Schritt auf die beiden zu.
Sam schaut mich fragend an.
»Komm, wir hauen ab«, sagt Justin zu seinem Kumpel.
Die beiden kommen lässig auf mich zugeschlendert.
Als Justin auf meiner Höhe ist, holt er mit der Faust aus, als wolle er mir ins Gesicht schlagen.
Unsere Blicke treffen sich.
Er nimmt die Hand wieder runter.
Ich gehe zu Sam, die gerade dem Käsegesicht aufhilft.
»Ist schon gut, Howard«, sagt sie zu ihm. Sie streicht ihm den Staub aus den zerzausten Haaren.
Er starrt mit betretener Miene auf den Boden.
»Danke, Sam.«
»Soll ich jemanden holen? Vielleicht die Schulschwester?«
»Nicht nötig«, sagt er verlegen. Dann macht er sich los und läuft den Gang hinunter.
Sam sieht ihm seufzend nach.
»Alles okay?«, frage ich.
Ganz unaufdringlich. Und ohne jede Wichtigtuerei.
Ich hab dem Loser zwar aus der Klemme geholfen, aber ich bilde mir nichts drauf ein.
Genau das soll rüberkommen.
»Siehst du doch. Aber dir
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