Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
Sekunde
, denke ich. Mehr bräuchte ich nicht, um ihm das Maul zu stopfen.
Ein schneller Griff, und schon hat er einen ausgerenkten Finger. Im Film biegt der Schlägertyp den Finger seines Gegners immer nach hinten, gegen das Handgelenk. Das funktioniert, aber es dauert ein bisschen zu lang.
Reißt man den Finger stattdessen zur Seite, hat man das Problem im Nu gelöst.
Der Zottelbär steht mit ausgestrecktem Zeigefinger da, ohne zu kapieren, in welcher Gefahr er schwebt. Aber ich gönne ihm noch eine Galgenfrist. Es ist geschickter, ihn erst mal in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht kann ich durch ihn mehr über Sam herausfinden.
Er sagt: »Ich beobachte dich. Vergiss das nicht.«
»Wie könnte ich«, erwidere ich. »Nach der Vorstellung eben.«
In der Mittagspause gehe ich in den Apple Store.
Das ist der Vorteil fortschrittlicher Privatschulen. Man kann das Schulgelände verlassen, ohne dass sich irgendwer daran stört. Ich laufe Richtung Süden, nutze die Gelegenheit, um mich mit der näheren Umgebung vertraut zu machen.
Und das ist wichtig. Also gehe ich möglichst oft zu Fuß. Immer wieder. Bis ich mich so gut auskenne wie ein Einheimischer.
Ich denke über Sam nach. Warum hat sie mich vorhin angesprochen?
Schwer zu sagen. Ich kenne sie einfach noch nicht gut genug.
Ich stehe vor der riesigen Glasfront des Apple Stores in der 67th Street. Ich gehe hinein und kaufe mir das neueste iPhone. Ich zahle bar.
»Soll ich’s für dich konfigurieren?«, fragt mich der Typ an der Genius Bar.
»Klar, du bist doch das Genie.«
Er nickt anerkennend.
»Das kapieren leider nur die wenigsten.«
Er hält mir das Handy hin, damit ich meine Apple-ID eingeben kann.
Als er mit dem Set-up fertig ist, gibt er mir das iPhone zurück.
»Wie ist denn euer WLAN hier?«, frage ich.
»Super.«
»Dann lade ich mir vielleicht noch ein paar Apps runter.«
»Klar, mach nur.«
Ich lehne mich an einen der Stehtische und rufe den App Store auf. Dann suche ich mir ein Programm namens HIGH SCHOOL LOCKER heraus, lade die App herunter und öffne sie. Jetzt erscheint ein Zahlenschloss auf meinem Display.
Schütze deine Bilder, Videos und Bücher vor neugierigen Blicken! Gib eine Zahlenkombination für dein Schließfach ein.
Ich gebe einen zehnstelligen Zahlencode ein. Keinen dreistelligen, wie es bei dieser App sonst üblich ist. Nachdem ich den Code bestätigt habe, macht es
klick
und das Schloss fängt an, sich zu drehen.
Jetzt erscheint ein Ladebalken am unteren Rand des Displays. Das iPhone nimmt mit einem anonymen Server Verbindung auf, lädt eine hochkomplexe Sicherheitssoftware herunter und installiert sie.
Jetzt hört das Schloss auf, sich zu drehen, und das Handy führt einen Neustart durch.
Danach sieht zwar alles aus wie vorher, aber dank eines erfolgreichen Jailbreaks laufen jetzt zwei Betriebssysteme auf dem Gerät. Eins im Vordergrund und eins im Hintergrund.
Wenn man den Balken nach rechts bewegt, geht das Handy in den öffentlichen Modus. So ist es für jeden, der es in die Finger bekommt, ein ganz normales iPhone. Man kann damit telefonieren, spielen und was es sonst noch gibt.
Aber wenn ich meine spezielle Fingergeste einsetze, wechselt das Gerät in den Sicherheitsmodus. Und dann kann ich auf eine Palette von Apps zugreifen, die dieses iPhone zu einem ganz besonderen Handy machen.
Also gehe ich in den Sicherheitsmodus und öffne die Kamera-App. Ich lege die nötigen Einstellungen fest und aktiviere den Blitz. Dann halte ich das Handy hoch, um eine Aufnahme zu machen.
»He, ist das das neue iPhone?«, fragt mich ein Mädchen.
Ungefähr fünfzehn, lange braune Haare, zu viel Lipgloss. Sie trägt einen Rucksack über der Schulter. Der Gurt zieht ihr T-Shirt nach hinten, sodass sich darunter ihre Brust abzeichnet.
»Gerade gekauft.«
»Kann ich mir leider nicht leisten.« Sie lächelt. »Soll ich ein Foto von dir machen?«
»Klar.«
Ich gebe ihr das Handy.
»Cool«, sagt sie.
»Ich oder das Handy?«
»Das Handy natürlich.« Sie lacht.
»Ich hab schon alles eingestellt. Brauchst nur noch auf den Auslöser zu drücken.«
Sie macht das Foto. Eigentlich ist es gar kein Foto, aber das kann sie natürlich nicht wissen.
In Wirklichkeit hat sie eben meine GP S-Koordinaten an Vater geschickt.
Ich bin hier. Es geht los.
Da fällt mir am anderen Ende des Ladens ein Mann auf, der zu uns herüberschaut. Dunkler Teint, Locken, kurz geschnittener Bart. Und ein bohrender Blick.
Zu bohrend für meinen
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