Boy Nobody: Ich bin dein Freund. Ich bin dein Mörder. (German Edition)
erinnern.
Ich muss mich auf Sam konzentrieren. Auf ihre Frage.
»Klar hab ich schon Kinder eislaufen gesehen.«
»Irgendwann kommt so ein Knirps ins Schlingern und macht die komischsten Verrenkungen, um das Gleichgewicht zu halten. Er würde sonst was tun, nur um nicht hinzufallen.«
»Worauf willst du eigentlich raus?«
»Genauso verhältst du dich gerade. Du würdest mir sonst was erzählen, stimmt’s?«
Dieses Mädchen ist ein menschlicher Lügendetektor. Ich stehe stumm da und versuche, Zeit zu schinden. Ich suche fieberhaft nach einer neuen Strategie.
»Ich wette, du legst dir grade wieder eine passende Antwort zurecht.«
Ich merke, wie ich rot werde. Das passiert mir sonst nie.
Spiel mit, sage ich mir.
Lass dich drauf ein und hör auf zu lügen
.
»Du hast recht. Ich würde dir sonst was erzählen.«
»Warum?«
»Weil ich dich kennenlernen will.«
»Na, endlich mal die Wahrheit.«
»Viele Mädchen möchten belogen werden. Zumindest solange die Jungs ihnen sagen, was sie hören wollen.«
»Ich bin nicht diese Art von Mädchen.«
»Das merk ich auch gerade.«
Sie sieht mich an. Mit ihrem Röntgenblick.
»Ich heiße Samara.« Sie streckt mir die Hand entgegen.
Ich greife zu. Sie ist weich und warm, viel wärmer, als ich dachte.
»Ich weiß«, sage ich.
»Tja, ich bin bekannt wie ein bunter Hund.«
»Ist wahrscheinlich ganz schön nervig.«
Sie seufzt. »Allerdings. Leider kapieren das nur die wenigsten.«
»Wieso? Ist doch gar nicht schwer.«
»Vielleicht bist du’s ja, der was Besonderes ist.«
»Und du bist diejenige, die mir sonst was erzählen würde, stimmt’s?«
Sie lächelt.
»Du verwendest meine eigenen Argumente gegen mich?«
»Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.«
»Aha. Und um was handelt es sich bei uns, Mr Unbekannt?«
Ich sehe in ihre hypnotischen Augen. Grau mit grünen Sprenkeln.
Plötzlich bin ich ganz woanders. Und ich stehe vor jemand anderem …
Ein Mädchen.
Das erste in meinem Leben. Ganz anders als Sam. Sie hatte lange, blonde Haare und blaue Augen.
Ich war vierzehn. Sie siebzehn oder achtzehn.
Sie saß in einem Supermarkt an der Kasse. Vater hatte mich zum Einkaufen mitgenommen. Mein zweites Ausbildungsjahr war fast zu Ende und es lief richtig gut für mich. Sie vertrauten mir. Ich durfte sogar manchmal das Haus verlassen.
Die Kassiererin lächelte mich an und steckte mir einen Zettel zu. Darauf stand, dass sie sich mit mir treffen wolle.
Ich glaubte, dass da was Besonderes zwischen uns passierte. Vielleicht wollte ich auch nur wissen, wie es ist, ein normaler Junge zu sein. Nur ein einziges Mal. Ein ganz normaler Junge, der sich mit einem hübschen Mädchen verabredet.
Wir trafen uns noch am selben Abend bei ihr zu Hause. Sie führte mich schnurstracks in ihr Zimmer.
Und schloss die Tür ab.
Dann knöpfte sie ihre Bluse auf.
Ich erinnere mich an den roten Spitzen-BH, durch den ihre Brustwarzen hindurchschimmerten.
»Magst du mich?«, fragte sie.
»Natürlich.« Meine Antwort schien sie zufriedenzustellen, denn sie knöpfte ihre Bluse weiter auf.
Beim untersten Knopf hielt sie inne. Sie biss sich auf die Lippe, als würde sie irgendwas beunruhigen.
»Du bist noch sehr jung«, sagte sie.
»So jung nun auch wieder nicht.«
Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Du wirst hinterher glauben, dass du in mich verliebt bist.«
Ich hatte meine Ausbildung fast abgeschlossen. Aus mir war ein verdammt harter Bursche geworden. Härter, als ich es je für möglich gehalten hätte.
Ich und verliebt? Ich schüttelte heftig den Kopf.
Sie nahm mein Gesicht in die Hände. Ich weiß noch, wie warm sich ihre Haut an meiner anfühlte.
»Glaub’s mir. Du wirst denken, dass du mich liebst. Und dass ich dich liebe, weil ich mit dir geschlafen habe.«
Sie ließ ihre Bluse auf den Boden fallen.
»Du wirst dich in beidem täuschen«, sagte sie.
Aber das ist schon lange her.
Ich sollte nicht daran denken. Zumindest jetzt nicht.
Sam steht vor mir und wartet auf eine Antwort.
Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, habe ich gesagt.
Und um was handelt es sich bei uns?, hat sie gefragt.
»Keine Ahnung«, sage ich. »Aber ich würde es gern rausfinden.«
»Okay. Vielleicht können wir damit anfangen, dass du mir deinen Namen verrätst.«
Mein Name.
Mein richtiger Name ist irgendwo in meinem Hinterkopf, in der hintersten Ecke verborgen. Dort habe ich eine Menge Dinge verstaut. Namen, Bilder, Momente, Erinnerungen.
Die Artefakte eines
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