Braeutigame
Minna, die Reise.
Sie bittet Herrn Draguschek um eine Packung Salz. Für die Füße, sagt sie. So hat Prudöhl es früher einmal erklärt: Wenn alle Stricke reißen, kann man immer noch Salz schlucken. Sie weiß nicht, ob es stimmt. Sie möchte kein Risiko eingehen.
Als Theo mit seinen Cousins zum Ring aufgebrochen ist, nimmt sie ihre Handtasche. Sie sagt Véron ique, dass sie vor dem Zubettgehen etwas frische Luft schnappen möc hte, sie sollen ruhig sitzen bleib en, nicht auf sie warten. Nein, alleine. Sie braucht etwas Zeit für sich alleine.
Véronique lächelt sie an und nickt verständnisvoll.
„Wo willst du hin, Oma?“, fragt Tobias.
„Weg“, sagt sie. Sie winkt ihm zu.
Sie geht an den Fluss, am Ufer entlang, an dem Kähne an angerosteten, braunen Metallplatten festgemacht sind , langsam, keine Eile, denkt sie. Es ist noch nicht dunkel, aber die Abenddämmerung hat begonnen , die Sonne leuchtet orange.
Drei Jungen sit zen barfuß auf einem mit Unkraut überwachsenen Kran gerüst neben dem Weg. Sie haben dunkle Haut und tief schwarze H aare. Moldowaner , denkt sie. Sie lächelt ihnen zu. Die Jungen lächeln zurück. Für einen Moment befürchtet sie, dass sie aufspringen und ihr die Handtasche rauben könnten, aber es passiert nichts. Sie geht weiter, Schritt für Schritt. Die Jungen bleiben sitzen. Sie unterhalten sich leise und lachen. Vielleicht über sie, die komische Alte.
Der Teich, in dem sie als Kind mit ihren Geschwistern gebadet hat, liegt dunkel vor ihr. Grün sieht er im Halbdunkel aus , fast schwarz . Sie sucht das Wasser ab, sieht keinen Schmutz – keine tote n Fische, an denen Vögel gehackt haben, keinen bunten, schlierigen Ölfilm. Auf der anderen Seite treibt ein weißer Fleck, eine Plastiktüte, weit weg.
Alma trägt Sonntagskleidung, ein einfaches, schwarzes Kostüm, ein Kopftuch, auch schwarz, mit roten Rosen und grünen Stielen. Wie Oma Mathilde sehe ich aus, denkt sie. S chau, da sind Libellen über dem Wasser, blaue und grüne.
Sie setzt sich auf das trockene Gras am Ufer, an einen Baum gelehnt, di e dünnen Beine ausgestreckt, ihre Handtasche auf dem Schoß. Sie lauscht in den Abend. Der Himmel ist dunkler geworden. Sie kann einzelne Sterne erkennen.
Sie wühlt in ihrer Tasche. Oben liegt das Salz, darunter der Brief von der Dienststelle. Sie nimmt ihn heraus und faltet ihn auseinander. Sie betrachtet ihn, liest ihn. Liest ihn noch einmal.
In der Ferne hört sie einen Güterzug. Ein Au to, das über die Straße fährt, ihren alten Breiten Weg, der nicht mehr breit i st. Sie sieht die Scheinwerfer durch die Kronen der Bäume wandern, die keine Akazien mehr sind . Für einen Moment hört es sich an, als ob jemand ihren Namen ruft: „Tante Alma…“ Aber es ist nicht Kali, nur der Wind. Der Gasthof liegt zu weit weg, zwanzig Minuten zu Fuß. Sie hat ihnen nicht gesagt, wohin sie geht.
Sie s ingt, nur für sich: Bach. Sie denkt an Lobgott, Mut mit h.
Sie nimmt ihre unteren Zähne aus dem Mund und legt sie in die Handtasche, sie möchte nichts Fremdes bei sich haben, in sich.
Sie zieht ihre Schuhe aus, stellt sie nebeneinander, neben ihre Tasche. Sie schluckt Nembutal, drei alte Tabletten, dann drei weitere und noch eine, sicherheitsh alber. Sie steht auf, das Glasfläschchen von Prudöhl mit der Hand umklammernd , und geht ins Wasser. Es ist kalt an ihren Füßen, unter der Strumpfhose. Egal, denkt sie, es ist egal. Einen Augenblick nur noch. Sie geht vor. Bis zu den Knien. Ihr Rock saugt das Wasser von unten auf.
Ein halbes Jahrhundert ist d ie Ampulle alt, denkt sie. Sie ist sich nicht sicher, ob sie noch wirkt , es wäre zu unangenehm, wenn nicht. Sie will nicht ins Krankenhaus, schon gar nicht hier. Werden ihre Arme müde…? Es muss das Nembutal sein, es ist ein starkes Mittel. Im Stehen bricht sie die Ampulle auf, es geht e infacher, als sie erwartet hat .
Sie sieht um sich, ihre Tasc he und die Schuhe am Ufer, der Sandw eg, für einen Moment, dann kommt der Schmerz. Es fühlt sich an, als würden ihr Lippen, Zahnfleisch und Zunge aufgerissen.
Ihre Stirn ist nass. Sie muss auf den Rücken gesunken sein, ihr läuft Wasser über Mund und Nase. Da ist einer der Moldowaner- Jungen, sein Arm, sein Finger , sein dunkles Haar, fast blau, so dunkel . Das Letzte, was sie sieht, sind zwei Libellen, über ihr, fast könnte sie sie greifen, sie hängen aneinander mit ihren langen Leibern, wie Finger.
Sie kann ihre Augen nicht mehr bewegen.
Kapitel 26 : Du also bist mein
Weitere Kostenlose Bücher