Braeutigame
Bräutigam
Leipzig (Serpnewoje), Ukr., 13 . Mai 1996
Mein geliebter Heinrich,
sie lebt noch. Unsere Kastanie – oben auf der Kanonenkugel – lebt! Si e hat gelitten. Der Stamm ist gespalten und innen morsch und vermodert. Ein Blitz muss irgendwann eingeschlagen sein, vor einer Ewigkeit schon, und vor zwanzig, dreißig Jahren haben sie einmal die Krone einfach abgesägt, quer durch den Stamm. An diesen Stellen si nd neue Äste gewachsen, die dick und stark geworden sind nach all der Zeit. Aber sie steht und lebt, das ist das Wichtigste. Es ist sogar ein stattlicher Baum aus ihr geworden, der ein halbes Jahrhundert überdauert hat, als hätte er darauf g ewartet, dass ich noch einmal komme. Wie froh ich darüber bin.
Wir sind also in unserem Leipzig. Ich habe noch eine halbe Stunde lang für mich und sitze an einem verrosteten Gartentisch unter einem Pflaumenbaum, an dem Efeu hoch gekrochen ist, bevor ich zum Abendessen in die Wirtschaft gehe. Theo und Véronique kümmern sich um alles. Ich habe keine Arbeit, mit überhaupt nichts.
Unser Teich – erinnerst Du Dich? – liegt unten am Ende der Wiese, ich sehe ihn von hier, wo ich sitze, auch wenn es schon leicht dämmrig wird in der Luft, die etwas diesig ist von der Wärme. Es badet kein Kind im Teich, es ist noch zu früh im Jahr, um drei oder vier Wochen. Er sieht nicht mehr so aus, als ob man darin baden möchte. Das Wasser ist braun. Ein paar Vöglein schwimmen herum – einige Stockenten-Paare und einen Haubentaucher habe ich gesehen –, aber nicht viele. Ob sie noch Fische habe n, weiß ich nicht. A n manchen Stellen treibt Öl oder Sprit auf der Oberfläche.
Die Leutchen, die jetzt hier wohnen, sind Ukrainer und Moldowaner , aber sie sagen alle, sie seien Ukrainer , weil die Moldowaner nicht gut angesehen sind. Frau Draguschek, bei der wir zum Bahnhof hin (wo nun d ie Grenze nach Moldau verläuft) Zimmer genommen haben – bis auf eine Kammer haben wir ihr ganzes Haus, wir sind viele –, jedenfalls: Diese Frau Draguschek sagt, die Moldowaner klauen. Das sagt sie wie die selbstverständlichste Sache der Welt. Zwischen denen hier, den Moldowanern und den Ukrainern, ist keine Liebe ver loren. Sie sind arm, die einen wie die anderen. Es ist alles noch immer von Staats wegen geplant hier, auch die Armut. Überall haben sie zwischen den paar Bäumen, die stehen, Netze gespannt, damit die Vögel sich darin verfangen. Die Singvögel, stell Dir vor, die Zaunkönige und Am seln und Stare und Nachtigallen. Keiner sagt es – die Mens chen haben ihren Stolz –, aber die Not ist groß. Nein, man kann nicht sagen , dass es schöner geworden ist i m Tal des Kogälnik. Sie nennen unseren Fluss auch anders. Aber ich habe den heutigen Namen nicht richtig verstanden – es klingt wie „Kundek“ oder „Kundik“. Es ist mir unangenehm, immer wieder nach allem zu fragen, was ich beim ersten und zweiten Mal nicht verstehe. Es geht noch ganz gut mit dem Rumänischen, wenn auch vieles verschüt t gegangen ist in meinem Kopf. Das Russische fällt mir aber schwer. Kaum, dass ich das Kyrillische flüssig lesen kann , und Ukrainisch ist wieder anders . Es ist das Alter – das eine Unglück, das Dir in Deinem Leben erspart geblieben ist. So hat alles auch sein Gutes.
Genug davon. Gestern spät, als die Nacht gekommen war, bin ich bei den Dr aguscheks in den Hof hinterm Haus gegangen – sie haben noch eine Art Schardach dort wie früher, nur keine hintere Küche mehr –, und dort habe ich die Sterne gezählt. Meine Augen sind nicht mehr gut, Heinrich , es ist etwas, gegen das ich mich nicht mehr wehren mag – egal, egal, es ist nun – endlich einmal – gleichgültig. Wie hinter einem Schleier ist mir die Welt seit vier oder fünf Jahren verschwunden, langsam und stetig – so langsam, dass man es von einem Tag auf den nächsten nicht merkte, nur von einem Monat auf den anderen, und dann war das Licht wieder um ein Stück, unwiederbringlich verloren. Aber ich schweife wieder ab: Ich hab e also, so gut es ging , in den Nachthimmel gestarrt und die Sterne gezählt, wie wir es damals , vor all der Zeit, taten , als wir jung waren und uns zum ersten Mal in den Armen lagen, oben auf der Kanonenkugel. Neun habe ich gezählt.
Mir war wohl ums Herz. Es sind die Orte, an denen wir geliebt haben, die uns mehr als alles andere ans Herz wachsen. So lange war ich nicht mehr hier, es ist mehr als ein halbes Jahrhundert h er, und trotzdem fühle ich mich noch zuhause,
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