Braeutigame
völl ig zuhause, obwohl alles nun anders ist und nur für den, der hier einmal lebte, wiederzuerkennen. Wie es auch sei: Selbst der liebe Gott kann die Vergangenheit nicht mehr ändern. Er beschäftigt sich nur mit dem, was sein wird, nicht mit dem, was war. So ist es recht. Das ist die Ordnung der Welt , der Plan . Für mich ist es nun zu spät für solche Gedanken, das Philosophische, mit dem Ko nrad sich immer beschäftigt e – und wofür auch? An einem Morgen war er einfach tot. Es hat alles nichts geholfen, das kluge Denken.
Ich bin von unserem Essen zurück. Herr Draguschek – Ilja heißt er mit Vornamen – und seine älteste Tochter, eine Alja, haben Wurst in dicke Scheiben geschnitten und gebraten. Heinrich, es war scheußlich, selbst für mich, und was den Kindern und den Kleinen durc h den Kopf gegangen sein muss bei Tisch... Sie sind alle so verwöhnt und krüsch heute. Aber es war eine widerliche Sache, viel zu fettig und ranzig obendrein, und Kraut reichten sie dazu, da s an den Rändern, wo es geschnitten worden war, braun und weich war. Überhaupt: die ju ngen Leute, denen das Leben bislang nichts als Glück beschert hat. Sind das nicht die, die den Mund aufreißen und sich am lautesten beschweren, wie ungerecht es zugeht? Ich glaube, Ihnen fehlt es an Kraft. Wenn dies es und jenes passieren würde, dann würden sie sich umbringen, erzählen sie stolz – wenn sie zum Beispiel in den Rollstuhl müssten oder eine schlimme Krankheit hätten . Was für ein Blödsinn . E s ist unerträglich. Was wissen s ie schon?
Die Draguscheks meinten es sicher gut mit ihrem Essen. Herr Draguschek ist aufgeregt, viele Leute im Haus zu haben, und dann alle von einer einzigen Familie und Deutsche. So etwas hat er noch nie erlebt, sagt er.
W ir hatten damals auch nicht viel, als wir hier lebten, als Kinder. Nur wussten wir nichts von all dem, was uns fehlte, von Autos und Reichtümern, und wir waren doch… kann man das sagen? – mir scheint, wenn ich zurü ckdenke an die Zeit, dass wir glücklich waren hier. Es waren leuchtende Tage , die wir hatten, Heinrich, oder nicht ? Leuchtende Jahre von einer Sorglosigkeit, wie ich sie nie wieder gekannt habe s eitdem. Und ich will nicht mehr jammer n, dass sie vorüber sind. Es w ar gut, sie überhaupt erlebt zu haben. So hat Pomreinke es einmal gesagt: Dankbar muss man sein für das, was man hatte – nicht flennen wegen dem , was einem fehlt. Ich erinnere mich noch, ich muss zwölf oder dreizehn gewesen sein, ein junges Mädchen war ich, und es hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt. Pomr einke hat ja manchmal Wirres erzählt damals, ab er in dem Punkt hatte er recht: Man muss zufrieden sein mit dem, was einem gegeben wird . Wer nur an das denkt, was ihm fehlt – was ihm genommen wurde o der vorenthalten –, kann nicht g lücklich werden in diesem Leben. Ich habe auch etwas verloren, es war alles, was ich hatte, und trotzdem musste es gehen, irgendwie.
Die Kinder haben mich hinten und untenrum mit Kissen gepolstert und mich in eine Decke gewickelt, damit ich nicht friere und mir keine Stellen hole. – Nicht friere! (Wer friert, ist Rosina, und sie redet von morgens bis abends von nichts anderem! Wie kalt es sei, wie feucht, wie ihr die Knochen zu schaffen machen – herrje.) Aber die Kinder meinen es gut mit mir. Der frühe Sommer ist hier wie immer: tagsüber Wärme, die einen zu Mittag etwas schläf rig macht an Geist und Körper. M an hält sich dann am Besten für ein oder zwei Stunden im Haus auf. Aber es ist nicht die große Hitze, die wir kennen. Am frühen Abend wird es frisch.
Wenn Theo und Véronique glauben, ich würde i n meinen Decken dösen , werfen sie mir einen Bl ick zu. Ich tue so, als würde ich nicht be merken , dass sie mich beobachten . Sie wirken betroffen, ihre Gesichter weich. So weich und verletzlich , dass ich sie beschützen möchte – bis i ch mich erinnere, dass ich eine alte Frau bi n, mit einem Rest von Kraft , aber nicht mehr. Sie sind den Abschied nicht gewohnt, die Glücklichen. Noch nicht. Das Leben wird es sie irge ndwann lehren, Abschied nehmen. Vielleicht sehen sie mir meine Last an. Aber ich will sie nicht vor ihrer Zeit alt machen mit meinen dunklen Geschichten. Gesungen habe ich, wann imm er ich konnte, mit ganzer Seele, und wo meine Seele nicht singen konnte, habe ich es wenigstens versucht, allein, in meinem Herzen. Vielleicht hat Gott durch mich kleine Frau gesungen und für einen Moment eine Stimme gefunden und
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