Bragg 04 - Dunkles Verlangen
zu sich. Schließlich hatte er sie doch selbst angewiesen, ihre Mahlzeiten im Kindertrakt einzunehmen. Er ging leise weiter. Dabei fiel ihm ein: Die Gouvernante Randall hatte er noch nie so lachen hören.
Nick blieb lautlos in der offenen Tür stehen. Wie man sich geräuschlos bewegte, damit kannte er sich aus. Er war auf einer Ranch aufgewachsen, sein Vater war Halb-Apache, und auch seine Mutter hatte eine Zeitlang bei den Mescalero-Indianern gelebt. Außerdem war Derek in jüngeren Jahren Hauptmann bei den Texas Rangers gewesen und hatte seinen Kindern – Nicks Schwester eingeschlossen – beigebracht, Spuren zu lesen und völlig geräuschlos zu jagen. »Das gehört nun mal zu unserer Tradition«, hatte Derek manchmal gesagt. »Manchmal hängt das eigene Leben sogar davon ab, dass man sich völlig lautlos bewegen kann.«
Der Earl verspürte wieder den alten Schmerz, eine solche Qual, dass er das Gefühl sofort unterdrückte, um nicht völlig die Kontrolle über sich zu verlieren. Also schob er es einfach weg. Und dann verzog er den Mund zu einem verbitterten Lächeln. Nein, nicht sein eigener Vater hatte ihn aufgezogen, der war damals längst tot gewesen. Umgebracht von dem Mann, der ihn – Nick – erzogen und wie ein echter Vater behandelt hatte, dem Mann, in dem Nick stets seinen Vater gesehen hatte. Bis ihm jemand die Wahrheit erzählt hatte.
Er schob die qualvollen Gedanken beiseite, eines konnte er jedoch nicht verdrängen: den Selbsthass, der wie Feuer in ihm brannte. Was für ein gigantischer Witz. Er war nämlich gar nicht Nicholas Bragg, Lord Shelton, Earl von Dragmore. Vielmehr war er das groteske Produkt einer brutalen Vergewaltigung.
Außerdem war er froh, dass Derek seinen leiblichen Vater den Comanchero Chavez – umgebracht hatte. Denn wenn Derek es nicht getan hätte, hätte Nick selbst es tun müssen.
Plötzlich stand das Bild seiner unglaublich schönen Frau vor seinem geistigen Auge. Ihr Gesicht war schneeweiß und so sorgfältig geschminkt, dass es schon wieder natürlich erschien. Sie hatte das volle blonde Haar oben auf dem Kopf zusammengesteckt. Aus ihrem Gesicht sprach blanke Abscheu.
Dabei hatte sie sein furchtbares Geheimnis noch gar nicht gekannt. Er hatte gerade erst angefangen, ihr davon zu erzählen. Er hatte ihr gerade erst seine indianische Abstammung gestanden. Und sie war entsetzt vor ihm zurückgewichen …
Er schob seine bedrückenden Gedanken abrupt beiseite. Hier war er bei seinem Sohn, und plötzlich fiel jede Härte von ihm ab.
Der ganze Mann wurde plötzlich weich: das Gesicht, die Augen. Auch die Anspannung, unter der er sonst meist stand, einfach weg. Chad war fast fünf – ein Junge mit dunkelbraunem Haar, einem etwas dunkleren Teint als gewöhnlich und den grünen Augen seiner Mutter. Er saß kichernd da, gab sich aber redlich Mühe, ernst zu erscheinen. Jane goss gerade etwas Wasser in ein Weinglas, das vor Chad stand. Dann hob sie ihr eigenes Glas. »Auf Euch, Euer Lordschaft«, sagte sie mit eine künstlich hohen Stimme. »Auf den Earl von Dragmore.« Die Gouvernante Randall, eine große stämmige Frau mit einem Pferdegesicht, legte missbilligend die Stirn in Falten und räusperte sich.
»Auf Euch, Mylady«, entgegnete Chad mit gespielter Feierlichkeit, und dann tranken die beiden je einen Schluck aus ihrem Gläsern.
Der Earl lächelte.
»Euer Lordschaft, ich fürchte, in der Bibliothek wartet eine unaufschiebbare Korrespondenz auf Euch«, fuhr Jane fort. »Wenn Ihr hier fertig seid, sollten wir uns vielleicht einmal etwas näher mit der Sache befassen.«
»Ich bin so weit«, verkündete Chad. »Gehen wir jetzt nach unten?« Auf seinem hinreißenden Gesicht lag ein fragender Ausdruck. »Und wenn nun Papa gerade in der Bibliothek zu tun hat?«
»Aber Euer Lordschaft«, rief Jane, erhob sich würdevoll von ihrem Platz und wies mit einer pompösen Geste in eine Ecke des Raumes. »Eure Bibliothek befindet sich doch gleich dort drüben.«
Chad stand auf und ahmte ihr gespielt vornehmes Gehabe nach. Inzwischen galt die Aufmerksamkeit des Earls nicht mehr seinem Sohn, sondern. Jane. Sie trug an diesem Tag nicht mehr ihr Schulmädchen-Kleid, sondern einen einfachen Rock ohne Krinoline oder Turnüre, dazu eine gestreifte Seidenbluse mit einem Spitzenkragen. Ihr Haar war zu einem armdicken langen Zopf zusammengebunden. Da er schon zuvor ein paar Haarsträhnen unter ihrer Haube hatte hervorlugen sehen, überraschte ihn die helle Champagnerfarbe ihres Haars
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