Bragg 04 - Dunkles Verlangen
ihren beiden unerwünschten Beschützern zu entkommen, ihre Stimmung nicht hob. Wenn keiner der beiden bereit war, sich um sie zu kümmern, bot sich ihr die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatte. »Na gut«, sagte sie und versuchte tapfer zu lächeln. »Dann gehe ich eben nach London. Ich habe dort Freunde.«
»Was! Freunde!«, zischte Matilda. »Dieses Theaterpack, mit dem deine Mutter sich abgegeben hat!«
Der Earl hörte nicht darauf, was Matilda sagte. Er blickte nur immerzu Jane an. Eine Engelsstimme hatte das Mädchen. Ihm wurde immer mulmiger zumute. Das hatte er nun gar nicht erwartet: Schönheit und Unschuld und dazu noch diese großen blauen Augen. Außerdem – das Mädchen war ja noch ein halbes Kind. In London würde sie unweigerlich der Prostitution anheim fallen – oder der Knechtschaft in einer Fabrik, wenn sie Glück hatte. Er fing laut an zu schimpfen: »Verdammte Patricia.«
Matilda schnappte nach Luft. Janes große Augen wurden noch größer. Der Earl sah Matilda an. Es war ihm völlig egal, was die beiden dachten – was die anderen von ihm hielten, scherte ihn schon lange nicht mehr. Seit dem Prozess gab er rein gar nichts mehr auf das Geschwätz der Leute. »Seid Ihr sicher, dass es sonst keine Westons mehr gibt?« Noch während er sprach, fiel ihm ein, dass seit dem Tod seiner Frau kein Weston mehr da war, bei dem das Mädchen hätte unterkommen können. »Und die Familie mütterlicherseits?«
»Ihr und ich – wir sind die beiden einzigen Verwandten«, erklärte Matilda mit Bestimmtheit. Dann berichtete sie ärgerlich über Janes neuesten Streich. Der Earl hörte ihr ausdruckslos zu und sah dann Jane wieder an. »Abigail Smith hätte der Schlag treffen können«, beendete Matilda ihre Ausführungen triumphierend. »Was soll ich denn mit so einer anfangen? Ich bin eine alte Frau.«
Der Earl fand das Vergehen nicht weiter tragisch. Wäre ihm nicht die ganze Situation gegen den Strich gegangen, hätte er vielleicht sogar schmunzeln müssen. Doch da ihm die ganze Vormundschaft nicht passte, erklärte er grimmig: »Ich bin auf so etwas nicht vorbereitet. Ich weiß nicht, wie man ein junges Mädchen erzieht.«
»Aber Ihr habt doch einen Sohn«, hielt Matilda ihm triumphierend entgegen und sah ihn lächelnd an. »Der hat doch gewiss eine Gouvernante, und die kann sich doch auch um das Mädchen kümmern. Für einen Mann in Eurer Position dürfte es außerdem kein Problem sein, das Mädchen sehr schnell zu verheiraten. Dann ist sie versorgt, und wir sind das Problem los.«
Nick sah Jane an. Sie war siebzehn, sie war schön, und sie war eine Weston. Er wusste fast nichts über sie, nur dass sie die Enkelin des alten Herzogs war. Aber diese wenigen Tatsachen reichten bereits aus. Das Mädchen zu verheiraten, stellte in der Tat kein Problem dar. Und anschließend konnte sein Leben wieder den gewohnten Gang nehmen.
»Also gut«, sagte er. »Sie kann hier bleiben. Ich kümmere mich darum, dass wir möglichst rasch einen Mann für sie finden.«
»Ich will aber nicht, dass Ihr mich verheiratet«, rief Jane.
Die beiden Erwachsenen blickten sie an: Matilda wütend, der Earl überrascht. Aus seinem Erstaunen wurde Belustigung, während Matilda sich aufs Drohen verlegte. »Was du willst, interessiert hier niemanden«, zischte sie. »Halt gefälligst den Mund!«
Jane wollte schon protestieren, doch dann sah sie den Blick, mit dem der Earl sie aus seinen grauen Augen ansah. Sie schluckte ihre Widerworte hinunter. In diesem Augenblick wurde ihr nämlich klar: Was sie wollte, war tatsächlich völlig ohne Belang. Sie konnte den Earl ohnehin nicht davon abbringen, genau das zu tun, was er wollte – und seinen Willen durchsetzen.
Kapitel 4
Matilda war inzwischen wieder abgereist.
Jane fühlte sich plötzlich mutterseelenallein. Sie schaffte es gerade noch, sich bei dem Diener, der ihre Sachen hinaufgetragen hatte, mit einem Lächeln zu bedanken. Dann war der Mann wieder weg und machte die schwere Rosenholztür hinter sich zu. In dem Raum war es jetzt absolut still.
Jane konnte die Stille fast körperlich spüren. Ihr Kummer, ihre Schmerzen, ihre Einsamkeit und ihr Heimweh, dies alles stürmte gleichzeitig auf sie ein. Sie schluckte den Kloß herunter, der ihr im Hals steckte, ging um das Himmelbett mit dem Seidenbaldachin herum und trat an eines der Fenster. Dann blickte sie ins Freie.
Das Haus lag inmitten riesiger Rasenflächen. Die Zufahrtsstraße, die sich von der Grenze des
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