Bragg 04 - Dunkles Verlangen
Besitzes über Meilen zum Herrenhaus hinaufschlängelte, glitzerte und funkelte hinter einem Vorhang aus schweren Regengüssen, die im Gegenlicht der Nachmittagssonne über dem weiten Hügelland niedergingen. Auf glänzenden Anhöhen waren Schafe und Kühe zu erkennen, wogende Getreidefelder, die sich hinter dem grauen Horizont verloren. Am Himmel zogen schwere Wolken dahin. Sie sah in der Ferne einen winzigen Kirchturm – ob das die Kapelle in Lessing war? Wie viel von alledem mag zu Dragmore gehören?, überlegte sie.
Heiraten kam überhaupt nicht in Frage.
Sie wollte Schauspielerin werden – und zwar eine berühmte, wie ihre Mutter.
Jane trat vom Fenster zurück. Sie hatte sich mit den Händen auf die Fensterbank gestützt. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Staub, der sich auf dem Holz abgelagert hatte, noch an ihren Händen haftete. Sie zog die Stirn in Falten. Der Mann hatte doch ein ganzes Heer von Bediensteten, das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Womit waren diese Leute nur die ganze Zeit beschäftigt? Natürlich ging sie das überhaupt nichts an. Außerdem war sie in der Tat ziemlich überstürzt mit ihrer Tante in Dragmore aufgekreuzt. Aber trotzdem.
Ob er seine Frau wirklich umgebracht hatte?
Jemand klopfte an die Tür. Jane zuckte zusammen, weil sie ihn draußen vor der Tür vermutete. Sie sah schon sein dunkles kantiges Gesicht und seine hellen durchdringenden Augen vor sich, als ein Dienstmädchen lächelnd den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Guten Tag, Mylady, ich heiße Molly. Seine Lordschaft haben angeordnet, dass Ihr gemeinsam mit Chad und Randall im Kindertrakt essen sollt.«
Jane wurde knallrot. Dann wollte er sie also wirklich in den Kindertrakt abschieben? »Und wo ist das?«
»Gleich drüben am Ende des Gangs.« Das hübsche dralle Dienstmädchen wies ihr mit der Hand den Weg. »Jake bringt Euch gleich heißes Wasser für ein Bad – und frischen Tee. Die beiden essen um sechs, Mylady.«
Jane nickte. »Schon gut, Molly, danke. Bitte lass das mit dem Tee, bringe mir lieber Kaffee.« Molly machte große Augen, nickte aber und ging rückwärts aus dem Zimmer. Jane schaute grimmig in den hohen, mit Walnussholz eingefassten Spiegel, der in einer Ecke des Zimmers stand. Sah sie etwa aus wie ein Kind? Sie musterte sich. Ihre Wangen waren immer noch rot vor Zorn.
Jane war nicht sehr groß und von zierlicher Gestalt. Diese zierliche Gestalt mit dem weißen, dreieckigen Gesicht – das etwas von einem hilflosen Kobold an sich hatte – erblickte sie jetzt vor sich im Spiegel. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine kleine spitze Nase und Lippen, die für ihr kleines Gesicht eigentlich zu voll waren. Ihre riesigen Augen leuchteten wie blaue Glockenblumen. Das karierte Kleid, das sie ohne die übliche Turnüre trug, und die blaue Haube auf ihrem Kopf ließen sie allerdings wie eine Zwölfjährige erscheinen. Jane riss sich den Hut vom Kopf und warf ihn in einen verstaubten Sessel. Unter der Haube kam ein ganzer Schwall prachtvoller platinblonder Haare zum Vorschein, die ihr auf die Schultern fielen. Eigentlich sogar zu viele Haare bei so einer kleinen Statur.
Aber sie sah immer noch wie zwölf aus.
Daran gab es nichts zu rütteln. Jane war plötzlich ganz schrecklich frustriert. Sie sah ihn vor sich – den Earl. Sie sah seine dunkle Erscheinung, dachte an seine umwerfende Ausstrahlung, seine Kraft. Das Gefühl war so stark, dass sie sich unwillkürlich umdrehte, weil sie plötzlich Angst hatte, dass er hinter ihr stand. Sie warf einen Blick über die Schulter. Natürlich war niemand außer ihr in dem Zimmer, natürlich war sie allein. Trotzdem sah sie ihn immer noch vor sich, stand noch immer im Bann seiner Anziehungskraft. Sie wusste selbst nicht genau, was da über sie kam: ein Schauder … der Angst … oder der Erregung?
Wieder schaute sie in den Spiegel. Ihre Wangen waren noch immer gerötet. Sie sah sich genau an. So also hatte er sie gesehen: in diesem lächerlichen, kindischen Kleid, in dem ein kleiner kindlicher Körper steckte. Trotzdem war sie kein Kind mehr. Sie war siebzehn Jahre alt.
Plötzlich fand sie es furchtbar wichtig, dass der Earl in ihr eine erwachsene Frau sah.
Der Earl blieb auf dem Treppenpodest im zweiten Stock stehen. Er hörte das volltönende, melodische Lachen einer gut gelaunten Frauenstimme: Jane Weston. Plötzlich war er hellwach, zutiefst berührt von der Glockenstimme. Dann erklang das kindlich-fröhliche Lachen seines Sohnes, und der Earl kam wieder
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