Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Bluejeans, ein offenes schwarzes Hemd und ein dunkles Leinensakko. Im Nachhinein hat er mich an diesen Schauspieler erinnert, diesen … ähm … wie heißt der doch gleich …«
Ich nicke erwartungsvoll.
»Er glich dem freundlichen Hotelier im amerikanischen Hinterland, der dort unfreundlicherweise eine Frau ersticht.«
»In der Dusche etwa?«
»Genau dort.«
»Sie sprechen von Anthony Perkins in ›Psycho‹?«
»Voilà! Diesen Hitchcock-Streifen meine ich.«
»Keine besonders vertrauensbildende Referenz für unseren Notenboten«, finde ich.
*
Mein Assistent organisiert die Reise nach Krakau. Danach äußert er einen besonderen Wunsch.
»Hanspudi, könntest du in Polen allenfalls Unterstützung gebrauchen?«
Ich winke ab. »Nein danke. Ich fliege kurz hin, gehe schnurstracks in die Bibliothek und kehre so rasch als möglich zurück. Das ist alles. Ich kann’s gut allein. Du brauchst mich nicht zu begleiten.«
»Ich habe nicht an mich gedacht«, erwidert er. »Ich möchte dich bitten, unseren Adoptivsohn Stefan mitzunehmen. Wie du weißt, wurde er vor 15 Jahren in der Nähe von Krakau geboren.«
Die Vorstellung, bei meiner gezielten Mission einen Halbwüchsigen mitzuschleppen, behagt mir nicht besonders. Ich werde kaum Zeit finden, mich um ihn zu kümmern. Andererseits kann ich einem Freund diesen Wunsch nicht abschlagen. Umso weniger, als er in der Zwischenzeit den leidigen Auftrag des Rathauswirts zu erledigen verspricht. Also willige ich ein.
Jüre bedankt sich und ergänzt: »Selbstverständlich komme ich für Stefans Kosten selbst auf.«
»Das brauchst du vermutlich nicht. Ich werde Auf der Maur die Notwendigkeit eines Begleiters schon plausibel machen.«
6
Nach dem Telefongespräch mit meinem Assistenten versorge ich das Handy in der Hosentasche.
Ich setzte mich wie gewohnt auf eine sonnige Parkbank am Brahmsquai, unweit meiner Mietwohnung, in der es um diese Zeit noch schattig ist. Die Kopien des Manuskripts habe ich dabei. Ich unternehme einen ersten Versuch, die Handschrift Brahms zu charakterisieren. Schließlich will ich in Krakau gut vorbereitet sein und mich vor dem Bibliotheksleiter keinesfalls blamieren.
Nach einer Weile weckt ein Fußgänger meine Neugierde, der über den kurzgeschnittenen Rasen auf die Statue zusteuert. In der Hand trägt er eine kleine, silberfarbene Digitalkamera. Damit beginnt er, die Brahmsrösi von allen Seiten abzulichten. Es hat den Anschein, als erwarte er jeden Augenblick den Abmarsch der kühlen Nackten. Falls sein Interesse an der Anzahl der Aufnahmen zu messen ist, gilt er abgesehen vom reinlichen Brahmspräsi als ihr obsessivster Fan. Hoffentlich bereitet da nicht ein Vandale gerade seinen nächsten Anschlag vor. Besorgt fummle ich an der linken Augenbraue und gebe keine Ruh, bevor ich nicht ein Härchen zu fassen kriege. Das wird so lange um die eigene Achse gezwirnt, bis es sich aus seiner Verwurzelung löst. Dieses autodestruktive Ritual steigert bekanntlich meine aktuelle Hirnleistung.
Inzwischen hat der Bildjäger anscheinend genug geknipst. Er macht ein paar Schritte und schaut ängstlich um sich. Darauf widmet er sich einer Gedenktafel über einem kleinen Brunnen. Erst kürzlich habe ich sie mir genauer angesehen, nachdem ich jahrelang achtlos daran vorbeigegangen bin.
›Hier in einem 1933 abgebrochenen Hause
lebte und komponierte in den Sommern 1886–1888
JOHANNES BRAHMS
Du hast dies Land
sangfroh seit alter Zeit
mit deinem Lied zu neuem Ruhm geweiht.
J. V. Widmann‹
Wie würde man heute sowas formulieren? Wer würde die passenden Worte finden? Wer war J. V. Widmann?
*
In dem Moment, als ich mich auf meiner Parkbank wieder den Fotokopien zuwende, schießt mir ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Augenblicklich stellt sich in meiner Hirnschale eine Leere ein. Darin wiederhallt ein Name wie das Echo in den Tropfsteinhöhlen des heiligen Beatus: Perkins! Perkins! Der Typ von vorhin zeigt eine frappante Ähnlichkeit.
Mein Mobiltelefon vibriert.
Jürg Lüthi verkündet frohgemut: »Hanspudi, euer Flug startet morgen Nachmittag um 13.55 Uhr ab Zürich. Ich werde dich und Stefan mit dem Auto hinbringen, wenn’s dir recht ist.«
Das ist es mir. Hingegen weiß ich nicht, was ich von dem Herumschleichen des eifrigen Fotografen halten soll. Diskret lasse ich die Notenblätter in der Mappe verschwinden. Argwöhnisch beobachte ich Perkins’ Aktivitäten. Er gibt vor, das Metallschild bei einer frisch
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