Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Parkanlage gleichen Namens.
Stefan testet als Erster die Betten. Er hechtet in hohem Bogen auf die linke Matratze. Päng! Ein lauter Pistolenknall lässt uns augenblicklich erstarren! Was ist passiert?
Mit seinem Sprung hat er eine schmale Holzleiste aus dem Rahmen gespickt. Glücklicherweise kein Schuss! Prustend und pustend schieben wir die schwere Matratze zur Seite. Mit vereinten Kräften biegen wir das Brett ins Bettgestell zurück. Falls wir keine weiteren Zerstörungen verschulden, werden wir es hier drei Nächte aushalten.
»Stefan, hast du Hunger?«, frage ich.
»Eigentlich schon. Essen wir im Hotel?«
»Nein, heute nicht. Ich schlage vor, wir machen erst einen kleinen Bummel durch die Altstadt und suchen uns danach eine gemütliche Beiz.«
Der Junge ist mit meinem Vorschlag einverstanden. Er zieht einen braun-orangen Kapuzenpulli über das schwarze T-Shirt, richtet seine tiefsitzenden Schlabberjeans und montiert eine hellblaue Baseballmütze mit auffälligem Logo. Ich schlüpfe in meine karminrote Sportjacke mit dem gestickten Reptil, die ich schon auf dem Hinflug getragen habe. Je älter man wird, desto mehr sollte man sich in der Kleidung auf Primärfarben konzentrieren. Keinesfalls sollte man auf Grau- und Beigetöne zurückgreifen. Zu sehr haftet diesen Farben das fragwürdige Flair helvetischer Durchschnittlichkeit und mittelständischen Frührentnertums an. Da möchte ich in den nächsten Dekaden noch nicht dazugezählt werden. Stefan scheint’s ohnehin nicht zu kümmern, solange ihm mein Outfit nur nicht peinlich ist.
Ein griesgrämiger Himmel ergießt seinen Missmut über die Stadt. Dennoch verlassen wir unser Hotel gutgelaunt. Wir schlendern über endloses Kopfsteinpflaster historischer Gassen. Die gut erhaltenen Gebäude beeindrucken. Sie weisen auf die glückliche Tatsache, dass Krakau während des Zweiten Weltkriegs kaum bombardiert wurde. Das Bewusstsein darüber, dass wenige Kilometer entfernt einst die Baracken von Auschwitz erstellt wurden, macht nachdenklich. Wenn uns Zeit bleibt, werden wir hinfahren. Stefan soll für Geschichte sensibilisiert werden. Eine amerikanische Umfrage hat ergeben, dass ein erschreckend hoher Prozentsatz von Teenagern noch nie von diesen Konzentrationslagern gehört hat. Guantánamo wird ihnen gegenwärtiger sein.
Als ein amerikanisches Hamburgerlokal auftaucht, schlägt mein Begleiter vor, uns dort zu verpflegen. Ich winke entschieden ab. Wir finden eine sympathische Alternative, in der sogar das polnische Nationalgericht Bigos serviert wird.
»Lass es uns probieren, wenn wir schon mal zusammen in Polen sind. Hamburger kannst du wieder essen, wenn du allein unterwegs bist«, schlage ich vor.
»Easy. Hab nur gedacht, wir könnten beim Essen sparen, um an der Bar flüssig zu bleiben.«
Das war hoffentlich ein Scherz.
Später fragt Stefan nach den Zutaten. Ich kann ihm auch nicht weiterhelfen.
»Wagen wir es einfach. Ich werde mich nach dem Essen danach erkundigen.«
»Zum Glück sprichst du fließend Polnisch«, spottet der Junge.
Ich dränge: »Wart’s ab. Los, komm jetzt, sonst verhungere ich.«
Stefan mustert mein Bäuchlein. Einen Kommentar erspart er mir.
Der Kellner spricht Deutsch. Er zählt uns die deftigen Zutaten des Eintopfs auf: Speck, Räucherwurst, Schweinefleisch, Weiß- und Sauerkraut. Dazu eine kriminell hohe Dosis an Zwiebeln.
Der verzogene Schnösel verzieht sein Gesicht. Vergeblich.
Ich ermuntere Stefan wie einen angeschlagenen Helden in einem Actionfilm: »Da musst du durch, mein Junge!«
*
Am nächsten Morgen liegt Nebel über der Stadt. Für die Jahreszeit ist es eher kühl.
Ich will keine Zeit verlieren und pünktlich zur Biblioteka Jagiello ń ska aufbrechen. Die kürzeste Route dorthin habe ich zu Hause auf einem Stadtplan studiert. Als Stefan und ich um 8.30 Uhr aufbrechen, wenden wir uns vor dem Hotel zielsicher nach rechts. Wir marschieren rund 100 Meter bis zur Einmündung der Dominika ńs kastraße. Dort biegen wir links ab und streben gegen einen Platz. Hier wird auf einer Freiluftbühne gerade ein Soundcheck durchgeführt. Aus kolossalen Lautsprechern, die links und rechts an hohen Metalltürmen hängen, ertönen vielversprechende Jazzakkorde.
Stefan möchte sich das anhören und drängt zur Bühne. Ich werfe einen unruhigen Blick auf meine Uhr und folge ihm nur unwillig. Ich habe einen Auftrag und einen Termin. Bei der Tribüne hängt ein Plakat: Jazz Festival Krakau. Letni Festiwal Jazzowy.
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