Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
überquerten die Straße, und ich glaube, die lachten und scherzten miteinander. Bis der Karren plötzlich herüberpreschte und auf sie zuhielt.«
Neundorf ließ ihn ausreden, völlig überrascht. »Eine junge Frau?«, sagte sie. »Bisher war nur die Rede von einem einzelnen Mann.«
»Quatsch«, antwortete der Bandagierte, »der Karren hielt ja voll auf die junge Frau zu. Wenn ich mich nicht auf sie gestürzt und zur Seite gerissen hätte …«
Neundorf spürte instinktiv, dass der Vorfall noch lange nicht geklärt war, die Sache weitere Ermittlungen benötigte, seufzte laut.
Haigis starrte irritiert zu ihr hoch. »Alles okay?«
Sie fuhr sich mit der Rechten über die Haare, schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »ich glaube, die Schwierigkeiten fangen erst an.«
9. Kapitel
Die dunkelroten Tropfen auf dem Boden setzten zwei Stufen vor dem ersten Obergeschoss ein, führten an der in der Mitte gelegenen Tür vorbei genau auf die Wohnung zu, an der die Namenskombination Lisa Haag/Vanessa Kögel prangte. Blut, schoss es Braig durch den Kopf, um Gottes willen, Blut. Er hatte es sofort erkannt.
Was war hier passiert? Hatte es der Täter nicht nur auf Lisa Haag, sondern auch auf deren Mitbewohnerin abgesehen und er, Braig, war jetzt – wieder einmal – zu spät, um das neue Verbrechen zu verhindern? Würde er hier auf das nächste Opfer des noch unbekannten Täters stoßen?
Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte, lauschte auf Geräusche aus der nahen Wohnung. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, hörte sein Blut pochen. Draußen auf der Straße lärmte der Verkehr. Vorbeifahrende Autos, lautes Hupen, quietschende Reifen. Ihm fiel ein, dass die Haustür im Erdgeschoss nicht richtig ins Schloss fiel, es jedem Fremden erlaubte, ohne Schlüssel ins Innere zu gelangen; er selbst hatte es gerade ausgenutzt, war auf diese Weise ins Haus getreten. War ihm jemand, der Vanessa Kögel Böses wollte, zuvorgekommen?
Braig atmete tief durch, drückte auf die Klingel. Vergeblich, alles blieb still, mehrere Sekunden lang. Er wollte gerade erneut läuten, als plötzlich die laut gesprochenen Worte einer weiblichen Stimme hinter der Tür ertönten: »Moment, ich komme!«
Braig starrte zur Wohnung, hörte Schritte näherkommen, sah sich einer jungen, ihn etwas verkrampft anlächelnden Frau gegenüber, die ihre linke Hand vor sich in die Höhe hielt. Das schmale Pflaster auf dem Zeigefinger schien zu erklären, woher das Blut auf dem Boden rührte.
»Sie haben sich verletzt?«, fragte er.
Die junge Frau drückte die verletzte Hand an die Brust, nickte. »Die blöde Einkaufstasche. Sie war zu schwer. Der eine Henkel ist gerissen – aber zum Glück ist es keine große Wunde.«
Er begutachtete die Verletzung, sah, dass es sich wirklich nur um eine kleine Schramme handelte, spürte die Anspannung wie einen Stein von sich abfallen. »Hoffentlich ist es nicht so schmerzhaft. Das wird bald wieder«, versuchte er, sie zu trösten. Er zog seinen Ausweis aus der Tasche, hielt ihn hoch. »Mein Name ist Braig. Landeskriminalamt. Sie sind Vanessa Kösel?«
Sie nickte, streckte ihm ihre rechte, unversehrte Hand entgegen. »Wir haben vorhin miteinander gesprochen?«
»Wegen Lisa Haag«, bestätigte er, »ja.« Er sah die Besorgnis in ihrer Miene, deutete in die Wohnung. »Vielleicht können wir uns bei Ihnen unterhalten?«
Die junge Frau betrachtete ihn kritisch, schien ihn nicht zu verstehen. »Ist Lisa …« Mitten im Satz brach sie ab, trat einen Schritt zurück. »Natürlich, ja. Aber lassen Sie mich vorher bitte sauberwischen.« Sie verschwand hinter einer Tür neben der Garderobe, kehrte mit einem feuchten Putzlappen zurück.
Braig wartete, bis sie die Blutflecken im Treppenhaus entfernt hatte, ließ sich dann in eine kleine, mit den notwendigsten Arbeitsgeräten und einer winzigen Sitzecke ausgestattete Küche führen, sah die defekte Einkaufstasche auf dem Tisch.
»Was ist mit Lisa? Ihr sei etwas zugestoßen, haben Sie am Telefon erwähnt. Doch nicht …?« Sie ließ die Frage offen, schaute ihn um Auskunft heischend an.
Braig zog einen der beiden Barhocker-ähnlichen hohen Stühle zu sich her, nahm Platz. »Ihr ist etwas zugestoßen, ja, so lässt sich das formulieren«, bestätigte er. Ihre vor Angst verzerrte Miene im Blick ließ er sich dazu bewegen, ihr die ganze Wahrheit mitzuteilen. »Sie hatte keine Chance.«
»Nein!«
Er sah, wie sie vor Schreck erbleichte, hörte ihr lautes Stöhnen.
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