Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
»Lisa!«
Sie wandte sich von ihm ab, lief zum Fenster, starrte ins Freie. Der Lärm verschiedener Autos war zu hören, Schreie eines Mannes, das laute Bellen zweier Hunde.
»Sie kennen Lisa erst seit drei Monaten?«, fragte Braig.
Vanessa Kösel drehte sich wie in Zeitlupe zu ihm um, tastete ihn mit ihren Augen von Kopf bis Fuß ab. »Weshalb interessiert Sie das jetzt noch?«
»Weil wir den finden müssen, der sie auf dem Gewissen hat.«
»Sie wissen es nicht?« Sie löste sich aus ihrer Erstarrung, trat zwei Schritte vom Fenster weg, klammerte sich an der Tischplatte fest.
Er schüttelte den Kopf.
»Und wie wollen Sie das jetzt herausfinden?«
Braig fuhr sich über die Stirn, rieb seine Schläfe. »Beantworten Sie doch bitte meine Fragen«, sagte er dann.
Die junge Frau benötigte mehrere Sekunden, um seine Worte zu begreifen. »Was wollen Sie wissen?«
»Wie lange und wie gut Sie Lisa Haag kennen?«
»Seit drei Monaten ungefähr, ja. Fiona, also Lisas Freundin, mit der sie hier wohnt, bekam Ende September überraschend doch noch einen Platz als Stipendiatin in Marseille. Als Nachrückerin, verstehen Sie, weil eine andere Bewerberin einen Rückzieher gemacht hatte oder krank geworden war, warum auch immer. So wurde das Zimmer hier frei.«
»Sie haben sich vorher nicht gekannt?«
»Zwei-, dreimal gesehen vielleicht. Aber nur flüchtig, nicht näher. In der Uni, auf einem Fest oder so. Nein, ich hörte nur, dass Fiona nach Frankreich geht und das Zimmer für ein Jahr zur Verfügung steht und sagte sofort zu.«
»Und wo wohnten Sie vorher?«
»Bei meinen Eltern in Rottweil. Ich fuhr jeden Tag hin und her. Eine Stunde je Strecke mit der Bahn, das ist nicht schlimm. Aber so ist es angenehmer. Tübingen hat nicht allzu viele Zimmer zu bieten. Bezahlbare, meine ich. Da muss man zugreifen, wenn sich eine Chance ergibt.«
»Dann hatten Sie jetzt drei Monate Zeit, Lisa Haag kennenzulernen. Das bleibt wohl nicht aus, wenn man in einer Wohnung zusammenlebt. Oder gibt es eine Person, die sie näher kennt?«
Vanessa Kösel löste sich vom Tisch, legte ihren Kopf zurück. »Ihre Eltern und ihr Bruder, denke ich mal. Haben Sie mit denen schon gesprochen?«
Braig nickte. »Gestern am späten Abend, ja. Aber die sahen sich wohl nicht so oft.«
»Nein, das nicht. Soweit ich das beurteilen kann, ein- oder zweimal im Monat. Jeweils übers Wochenende. So eng ist die Beziehung wohl nicht.«
»Hat Lisa einen Freund?«
»Dennis Zeller, ja. Er studiert ebenfalls.«
»Eine feste Beziehung?«
Die junge Frau zögerte mit ihrer Antwort. »Kommt darauf an, was Sie unter fest verstehen. Eher im Abklingen, würde ich mal sagen.«
»Im Abklingen? Sie meinen, die waren dabei, sich voneinander zu trennen?«, fragte er, hellhörig geworden, bemerkte das bestätigende Kopfnicken seiner Gesprächspartnerin.
»Wo wohnt der junge Mann? Haben Sie seine Adresse und Telefonnummer?«
»In Bissingen an der Teck bei seinen Eltern. Wo genau, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht mal seine Nummer. Die werden Sie aber garantiert bei Lisas Sachen finden.«
Braig notierte sich den Namen, hoffte, den Mann in den Handy-Verbindungen der Getöteten zu finden. »Wieso sprechen Sie davon, dass Lisa Haags Beziehung zu ihrem Freund am Abklingen war? Wie kommen Sie darauf? Gab es Streit zwischen den beiden? Irgendwelche Auseinandersetzungen?«
»Streit?« Vanessa Kösel fuhr sich vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger über ihre verwundete Hand, lief dann zu dem anderen Barhocker, setzte sich. »Nein, Streit würde ich das nicht nennen. Jedenfalls nicht, soweit ich es mitbekam.«
»Was dann? Wieso glauben Sie, dass die Beziehung der beiden am Ende war?«
»Die haben doch kaum noch Zeit füreinander. Lisa jedenfalls.«
»Weshalb? Ist das Studium so anstrengend?«
»Das hängt ja wohl davon ab, wie stark Sie sich reinknien«, antwortete sie. »Lisa ist fleißig, oh ja, sehr fleißig, würde ich sagen. Ehrgeizig, das ist wohl der richtige Ausdruck. Ich glaube, wenn sie sich was zum Ziel gesetzt hat, dann zieht sie das auch durch. Aber in letzter Zeit …«
Braig horchte auf, drehte sich zur Seite, um das Gesicht der jungen Frau besser im Blick zu behalten. »Was war in letzter Zeit?«
Sie schaute unschlüssig zu ihm her, streckte ihre verletzte Hand von sich, richtete ihre Augen auf das Pflaster. »Ich, also ich …«
Er sah, wie es in ihr arbeitete. »Ein anderer Mann?«
Vanessa Kösel zögerte immer noch.
»Bitte, wenn Sie eine Vermutung
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