Braig & Neundorf 11: Schwaben-Engel
sich jetzt schon bewusst, dass er das Bild des getöteten Mädchens so schnell nicht aus seinem Gedächtnis tilgen konnte – jeder noch so abwechslungsreichen Langen Nacht zum Trotz.
8. Kapitel
Engel. Ich nehme alles zurück, was ich bisher darüber gesagt oder geschrieben habe.«
»Du hast die Frau getroffen?« Katrin Neundorf hatte von ihrer Kaffeetasse aufgeblickt, das verschlafene Gesicht ihres Lebensgefährten aufmerksam betrachtet.
»Wir haben uns unterhalten, ja. Über Engel. Und ich muss sagen, ich schäme mich sehr, erst jetzt davon erfahren und noch nie etwas darüber veröffentlicht zu haben.« Thomas Weiss hatte sich ein Stück von dem Hefezopf genommen, den er am Vortag selbst gebacken hatte. »Johanna und Eugen Stöffler. Hilde und Richard Gölz. Luise und Alfred Dilger. Gertrud und Otto Mörike. Hildegard Spieth. Das sind nur ein paar von vielen. Aber die Namen sollten wir uns einprägen. Das ist das Mindeste, womit wir sie noch ehren können. Engel, die mitten unter uns gelebt haben.«
»Die Sache scheint dir sehr nahe zu gehen. Langsam mache ich mir Gedanken darüber, ob der Mann hier an meinem Frühstückstisch wirklich derselbe ist, mit dem ich seit einigen Jahren zusammenlebe. Ein ehemaliger Freigeist auf dem Weg zu seiner religiösen Bekehrung.«
»Religiöse Bekehrung?« Weiss hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, damit hat es nichts zu tun. Aber eine spürbare Bewusstseinserweiterung. Und ein neues Menschenbild vielleicht. Doch, so lässt sich das sehen. Ein Stück weit eine veränderte Existenz. Damit wirst du leben müssen. Das bringt das Leben nun einmal so mit sich.«
»Ich wüsste nicht, was es daran auszusetzen gibt. Ein Mensch, der sich neuen Erkenntnissen gegenüber nicht verschließt, sondern offen zeigt und mit ihrer Hilfe zu einer neuen Persönlichkeit wächst, ist mir jedenfalls sympathischer als eine Person, die sich vor Neuem prinzipiell abschottet. Und wenn dir deine Recherchen in den vergangenen Wochen so beeindruckende Erkenntnisse gebracht haben, dass sich dadurch sogar dein Menschenbild mit positiver Tendenz, nehme ich an, verändert – umso besser.«
»Mit positiver Tendenz, allerdings.« Weiss hatte den Hefezopf in den Kaffee getunkt, ihn dann langsam gegessen. »Bisher war ich eher auf gescheiterte Existenzen spezialisiert, auf die Karrieren am unteren Rand unserer Gesellschaft. Das bringt mein Beruf als Journalist nun einmal so mit sich. Das Interesse der Öffentlichkeit erwecken meist eher die Schatten- als die Lichtgestalten. Und jetzt stelle ich mit einem Male fest, es gibt sie doch, die anderen. Die Lichter in unserer Dunkelheit. Und nicht nur die. Nicht nur die Kleinen, sondern auch die Großen. Die ganz Hellen. Die ihr Leben für andere riskierten, ohne jedes Kalkül, vollkommen selbstlos. Menschen, die ich aufgrund ihres Verhaltens nur als Engel beschreiben kann. Engel, wirklich Engel. Nur dass sie bisher noch kaum jemand zur Kenntnis genommen hat.«
Neundorf hatte genau gewusst wovon er sprach. Seit Wochen war Thomas Weiss damit beschäftigt, Pfarrerehepaare und Personen in deren Umfeld zu recherchieren, die in der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte unter Einsatz ihres Lebens Juden und anderen Verfolgten Unterschlupf geboten und diese vor der Vernichtung gerettet hatten. In weiten Teilen Württembergs waren Mitglieder der Bekennenden Kirche, einer Oppositionsgruppierung evangelischer Christen, bereit gewesen, unzählige jüdische Familien über Wochen-, ja Monate hinweg in ihren Wohnungen vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu verstecken. Ein dicht gesponnenes Netzwerk von Pfarrern rings um Stuttgart hatte die Verfolgten so vor dem sicheren Tod bewahrt und den braunen Massenmördern wenigstens einen kleinen Teil ihrer schon sicheren Beute entrissen. Mitten im Wüten des widerlichsten Mobs, den dieses Land je hervorgebracht hatte, waren Menschen bereit gewesen, ihr Leben zu riskieren, um andere vor der Vernichtung zu retten.
»Johanna und Eugen Stöffler. Die Engel von Köngen. Viereinhalb Stunden hat sie mir von ihnen erzählt. Ich habe alles aufgenommen. Eine kleine Passage möchte ich heute Abend in der Langen Nacht präsentieren.«
Spät erst in der Nacht war er nach Haus gekommen; sie hatte bereits geschlafen, war nur kurz aus dem Dämmer erwacht, hatte seine zärtliche Hand gespürt, war dann wieder im Reich der Träume versunken.
»Sie hat im Pfarrhaus mit gelebt, die Kinder mit erzogen, Arbeiten jeder Art verrichtet, die
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