Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
machen ließe. Runterschmeißen, Scherbe greifen und irgendwem den Hals aufschneiden. Einer untreuen Geliebten vielleicht oder dem Schließer auf dem Stuhl neben der Tür. Oder sich selbst.
Einmal war Thiel sogar aufgestanden und hatte mit gekrümmtem Zeigefinger gegen eines der Bilder geklopft. Es hatte nach Plexiglas geklungen, aber sicher war er sich nicht.
Die Langeweile machte, dass ihm solcher Stuss durch den Kopf ging. Die Langeweile und all die verqueren Gedanken, die wie giftiges Gas durch die Flure zogen. Hasserfüllte, rachsüchtige Gedanken, die manche hier zu tickenden Zeitbomben werden ließen. Thiel wusste, wie sich das anfühlte. In Bützow war es ihm auch so gegangen. Drogen, Suff, Gewalt
zwischen düsteren Mauern, mehr als genug, um einem das Menschsein abzuziehen wie ein zerschossenes Fell.
Nach der Verlegung war es besser geworden. In Waldeck hatte er sich arrangieren können und Frieden schließen mit sich selbst. Gute Führung hieß das, fühlte sich aber an, als sei etwas in ihm kaputtgegangen. Jedenfalls wollte er jetzt nur noch seine Ruhe. Ein für alle Mal.
Als Willeke den Raum betrat, verließ der Schließer seinen Posten neben der Tür. Sie hörten, wie er von draußen den Schlüssel im Schloss drehte, dann war es still.
»Na, wie fühlen Sie sich?«
»Ganz gut«, sagte Thiel und ergriff die ausgestreckte Hand des Anwalts.
»Ganz gut?« Willeke klang ehrlich entrüstet. »Sie haben es geschafft, Thiel. Heute in einer Woche geht’s in die Freiheit! Manch einer würde einen Freudentanz aufführen, könnte er mit Ihnen tauschen.«
Thiel wollte zwar mit niemandem tauschen, aber nach Freudentanz war ihm trotzdem nicht zu Mute. Er wartete, bis Willeke auf der anderen Seite des Tisches Platz genommen hatte, dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl.
Willeke kramte in seiner Aktentasche und schien darauf zu warten, dass Thiel doch noch etwas wie Vorfreude auf die Freiheit zeigen würde.
»Also dann.« Willeke atmete einmal sehr tief und resigniert, dann breitete er auf dem Tisch aus, was er
für das Gespräch brauchte. Das Etui mit Druckbleistift und Kugelschreiber, die Mappe mit Schreibblock und Notizzettel und einen dunkelblauen Hefter.
Während Thiel die fleischigen Hände des Anwalts beim Hin- und Herschieben seiner Utensilien beobachtete, ging ihm durch den Kopf, dass sie sich beide ziemlich verändert hatten in den vergangenen fünfzehn Jahren. Willeke war kahler und dicker geworden, seine Anzüge teurer und sein Gebaren so leutselig und jovial, wie es sich für einen arrivierten Anwalt gehörte. Den Siegelring an der linken Hand trug er erst seit Kurzem, den Ehering an der rechten dagegen schon lange. Es sah aus, als sei er ins Fingerfleisch eingewachsen.
Thiel hatte sich besser gehalten. Sein dunkelblondes Haar war zwar an den Schläfen grau geworden, aber immer noch dicht und voll. Er war trotz seiner Arbeit in der Küche schlank geblieben und wieder zu ganz ansehnlichen Muskeln gekommen, seit er keine Stunde im Kraftraum mehr ausließ. Der einzige Schmuck, den er trug, war unter seinem Hemdsärmel verborgen. Brunner hatte ihm dicht unter die bohnengroßen Narben der Pockenimpfung das Zeichen in den Oberarm gestochen. Das große T mit dem Spitzdach darüber, mit dem die Thiels seit Generationen markierten, was ihnen gehörte.
»Also«, begann Willeke und räusperte sich, bevor er geschäftlich wurde. »Wie besprochen, habe ich Ihnen heute nur das Notwendigste mitgebracht. Ihre Kontoauszüge,
damit Sie sehen können, was ich für Sie verfügt habe, und fünfhundert Euro in bar. Die sind bei der Verwaltung hinterlegt und werden Ihnen bei der Entlassung ausgehändigt. Stecken Sie das Geld bloß gut weg. Es ist unvernünftig, so viel mit sich herumzutragen. Es geht mich zwar nichts an, aber was wollen Sie damit?«
»Das weiß ich noch nicht.« Thiel zuckte mit den Schultern. »Ein paar Sachen kaufen. Fahrkarten, was zu essen. Solche Dinge.« Dass man dafür keine tausend Mark in der Tasche brauchte, wusste er auch. Aber was sollte einer machen, dem alles so fremd war? Die Preise, die Scheine, die vertrackten Automaten, aus denen es Nachschub nur gab, wenn man die richtigen Knöpfe drückte. Andere hatten Jahre gehabt, sich daran zu gewöhnen, er nur die Freigänge der letzten Monate.
»Ich verstehe.« Willeke schob seinen Notizblock von links nach rechts und wieder zurück. Mehr als diese Floskel fiel ihm dazu offenbar nicht ein.
Thiel griff nach seinem Tabak und schwieg.
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