Brandfährte (German Edition)
Arbeit musste. Wenn sie so weitermachte, würde sie noch verrückt.
Wieder kontrollierte sie die Straße. Eine junge Radfahrerin in einem weißen Regencape kam vorbei. Ein Lieferwagen fuhr durch eine Pfütze, und ein kleiner Wasserschwall traf die Frau. Aus ihrer dunklen Küche beobachtete Maike, wie die Radfahrerin wütend die Faust schüttelte. Sie schleuderte dem Lieferwagen laute Flüche hinterher. Dann beschleunigte sie mit kräftigen Tritten ihre Fahrt, als hoffte sie, den rücksichtslosen Fahrer an der nächsten Ampel einzuholen und ihn zur Rede zu stellen.
Maike beneidete die Frau um ihre Wut.
Sich nichts gefallen lassen. Sich zur Wehr setzen, wenn es nötig war, und andere in ihre Grenzen verweisen. Früher galt auch sie als selbstbewusst und durchsetzungsfähig. Sie war um die halbe Welt gereist, manchmal ganz allein. Und jetzt? Seit einer Weile konnte schon der kurze Weg zum Bäcker für sie zur Angstpartie werden.
Vor drei Wochen hatte er in der Schlange plötzlich hinter ihr gestanden. Ihre überreizten Sinne, die überall Gefahr vermuteten, hatten sie an jenem Morgen gewarnt. Ruckartig drehte sie sich um. Er stand direkt an der Tür. Sechs, sieben Kunden trennten sie noch voneinander. Dieser Blick, sehnsüchtig und triumphierend zugleich.
Bei dem Gedanken an ihren Verfolger musste Maike einen Würgereiz unterdrücken. Fluchtartig verließ sie an jenem Morgen die Bäckerei. Nach Atem ringend rannte sie nach Hause und stürmte das Treppenhaus hinauf, bis in den zweiten Stock. Erst als sie alle Sicherheitsschlösser verriegelt hatte, kam sie zur Ruhe.
In der Praxis meldete sie sich krank. Die Kollegin glaubte ihr nicht. Das spürte sie sofort am Telefon. Aber es war ihr egal. In den Augen der anderen Arzthelferinnen war sie eine Simulantin. Eine, die sich auf Kosten der anderen einen schönen Tag machte. Dabei saß sie den ganzen Tag zu Hause und hoffte, dass es endlich aufhörte und er das Interesse an ihr verlöre.
Ihre Wohnung war zur Fluchtburg geworden. Hier konnte er sie nicht mit seinen irren Liebesbeteuerungen quälen. Dafür hatte sie gesorgt. Nachdem er vor zwei Monaten auch ihre neue Geheimnummer herausgefunden hatte, zog sie regelmäßig das Kabel aus der Steckdose. Ihr Handy war meistens ausgeschaltet, und ihre E-Mails blieben ungelesen.
Alle Brücken waren hochgezogen.
Anfangs hatte sie seine Liebesbeteuerungen noch gelesen. Es faszinierte sie sogar, dass ihr jemand so verfallen war, ausgerechnet ihr. Sie war Anfang 30 und nicht besonders schlank. Sie war nicht die Frau, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten. Und dann tauchte im Frühsommer plötzlich dieser Typ auf. Ein Mann wie aus einem Katalog: markante Gesichtszüge, lässiger Gang. Einer, der weiß, dass er auf Frauen wirkt. Er bestürmte sie mit Anrufen, schwor ihr, sie immer auf Händen zu tragen und sie nie wieder aus seinem Herzen zu verbannen. Wie das klang! Kitschig. Übertrieben. Sie mochte ihn nicht, obwohl ihr sein Interesse in den ersten Wochen schmeichelte. Doch seine drängende Art wurde ihr schon nach kurzer Zeit lästig. Sie mailte ihm, dass sie nicht interessiert sei und keine Beziehung mit ihm wolle. Jede ihre E-Mails löste eine Flut von Antworten aus. Schließlich reagierte sie gar nicht mehr. Und dann war eines Sonntagmorgens die gegenüberliegende Hauswand in orangefarbener Schrift besprüht:
«Maike, meine große Liebe!»
Als er das nächste Mal anrief, machte sie ihm wütend klar, dass er sie gefälligst in Ruhe lassen solle. Er zeigte sich einsichtig und bat um ein letztes Treffen.
«Ich will nur noch einmal mit dir reden. Bitte. Das kannst du mir nicht abschlagen.»
Zwei Tage später trafen sie sich abends in einem Restaurant in Findorff. Er hatte sich so gesetzt, dass er die Tür genau im Visier hatte. Maike spürte seinen saugenden Blick sofort, als sie das Restaurant betrat. Sie zwang sich, auf seinen Tisch zuzugehen.
«Hallo», begrüßte sie ihn kühl und setzte sich, ohne ihre Jacke auszuziehen. Er sprang sofort auf. «Warte, ich helf dir», sagte er liebenswürdig und ging um den Tisch herum, um ihr die Jacke abzunehmen.
«Danke, nicht nötig.» Zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde wollte sie ihm geben, um ein für alle Mal zu begreifen, dass sie nie ein Liebespaar werden würden. Sie begann, sich in ihre warme Felljacke zu verkriechen.
Er lächelte sie an. «Was möchtest du trinken? Weißwein? Oder lieber Rotwein?»
«Ich nehme ein Wasser», entgegnete Maike
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