Brandherd
nach den Zeitungen greifen zu können, die unter dem Vordach auf der Treppe lagen. Ich ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Um halb acht war ich fertig zum Aufbruch, und Lucy hatte sich immer noch nicht gerührt. Wieder betrat ich lautlos ihr Zimmer, und das Sonnenlicht umfloss mittlerweile das Rollo und tauchte ihr Gesicht in ei n weiches Licht.
»Lucy?« Sacht berührte ich ihre Schulter. Sie fuhr ruckartig aus dem Schlaf auf.
»Ich muss gleich los«, sagte ich.
»Ich muss auch aufstehen.«
Sie warf die Bettdecke zurück.
»Möchtest du eine Tasse Kaffee mit mir trinken?«
»Ja, gern.«
Sie setzte die Füße auf den Boden.
»Du solltest etwas essen«, sagte ich.
Sie hatte in Laufshorts und T-Shirt geschlafen und folgte mir lautlos wie eine Katze.
»Ein paar Haferflocken?«, fragte ich sie, während ich einen Becher aus dem Schrank holte.
Sie sagte nichts, sondern beobachtete mich bloß, während ich die Dose mit den selbst gerösteten Getreideflocken öffnete, die Benton fast jeden Morgen mit Banane oder Beeren gegessen hatte. Schon ihr Duft bewirkte, dass mich erneut der Kummer überwältigte, schon schnürte sich mir die Kehle zu, und mein Magen krampfte sich zusammen. Einen langen Augenblick stand ich hilflos, unfähig, auch nur den Löffel herauszunehmen oder die Hand nach einem Napf auszustrecken. Ich war wie gelähmt.
»Lass nur, Tante Kay«, sagte Lucy, die genau wusste, was in mir vorging. »Ich habe sowieso keinen Hunger.«
Meine Hände zitterten, als ich den Schnappverschluss der Dose wieder zumachte.
»Ich weiß gar nicht, wie du weiter in diesem Haus bleiben sollst«, sagte sie. Sie goss sich selbst Kaffee ein.
»Es ist mein Zuhause, Lucy.«
Ich öffnete den Kühlschrank und reichte ihr die Milchtüte.
»Wo ist denn sein Auto?«, fragte sie und goss sich Milch in den Kaffee.
»Am Flughafen von Hilton Head, nehme ich an. Er ist von dort direkt nach New York geflogen.«
»Und was willst du damit machen?«
»Weiß ich nicht.«
Ich wurde langsam ungehalten.
»Sein Auto steht derzeit ziemlich weit unten auf meiner Liste. Ich habe ja schon seine ganzen Sachen im Haus.« Ich holte tief Luft.
»Ich kann nicht sämtliche Entscheidungen gleichzeitig treffen«, sagte ich.
»Du solltest die Sachen noch heute bis aufs letzte Stück aus dem Haus schaffen.«
Lucy lehnte sich gegen die Küchentheke, trank Kaffee und beobachtete mich mit dem immer gleichen ausdruckslosen Blick.
»Wirklich«, fuhr sie in einem Ton fort, der keinerlei Emotion verriet.
»Ich werde nichts davon anrühren, ehe nicht sein Leichnam nach Haus geschafft worden ist.«
»Ich kann dir helfen, wenn du möchtest.«
Wieder trank sie einen Schluck Kaffee. Ich fing an, mich ernsthaft über sie zu ärgern.
»Ich möchte das auf meine Weise machen, Lucy«, sagte ich, und der Schmerz schien in jede einzelne Zelle meines Körpers auszustrahlen. »Ausnahmsweise werde ich einmal nicht die Tür hinter mir zuknallen und davonlaufen. Ich habe das fast mein ganzes Leben lang getan, scho n damals, als mein Vater starb. Dann ging Tony weg, und Mark wurde getötet, und ich bekam immer mehr Übung darin, jeder Beziehung den Rücken zuzukehren wie einem alten Haus. Wegzugehen, als hätte ich nie darin gelebt. Und weißt du was? Es funktioniert nicht.«
Sie starrte auf ihre nackten Füße nieder.
»Hast du schon mit Janet gesprochen?«, fragte ich.
»Sie weiß Bescheid. Jetzt regt sie sich furchtbar auf, weil ich sie nicht sehen will. Ich will überhaupt niemanden sehen.«
»Je schneller du rennst, desto weniger kommst du vom Fleck«, sagte ich. »Wenn du sonst nichts von mir gelernt hast, Lucy, dann lerne wenigstens dies und warte damit nicht, bis dein halbes Leben schon vorbei ist.«
»Ich habe vieles von dir gelernt«, sagte meine Nichte. Die Fenster fingen das Morgenlicht ein, und meine Küche wurde hell.
»Mehr, als du denkst.«
Einen Augenblick starrte sie in den leeren Flur, der in das große Zimmer führte.
»Ich habe ständig das Gefühl, dass er gleich reinkommt«, murmelte sie.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich auch.«
»Ich rufe jetzt Teun an. Sowie ich etwas weiß, piepe ich dich an«, sagte sie.
Die Leute, die auf dem Weg zur Arbeit in östlicher Richtung fuhren, blinzelten in das gleißende Sonnenlicht, das einen wolkenlosen, heißen Tag versprach. Der Verkehrsstrom auf der Ninth Street trug mich am Capitol Square mit seiner schmiedeeisernen Einfassung und den im ursprünglichen Stil erhaltenen, weißen Häusern
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