Brandherd
ich dazu imstande wäre. Der bloße Gedanke erfüllte mich mit Entsetzen, und mein Herz pochte wild. Ich spürte meinen Puls wie eine Faust gegen eine Tür schlagen, während ich auf die braunen Papiertüten starrte, die Marino vor einem Bücherregal voller juristische r Fachzeitschriften abgestellt hatte. Sie waren mit Klebeband verschlossen und beschriftet. Ich nahm sie vom Boden hoch und folgte dem Flur zu Bentons Zimmer. Wenn wir normalerweise auch in meinem Bett geschlafen hatten, so war der zweite Flügel des Hauses doch seiner gewesen. Hier hatte er gearbeitet und die notwendigen persönlichen Dinge untergebracht, denn mit zunehmendem Alter hatten wir beide die Erfahrung gemacht, dass unserer Beziehung nichts so förderlich war wie Raum. Unsere Rückzugsmöglichkeiten hatten bewirkt, dass unsere Schlachten weniger blutig verliefen. Und dass wir einander tagsüber aus dem Weg gehen konnten, hatte die Nächte umso einladender erscheinen lassen. Seine Tür stand weit offen, so wie er sie zurückgelassen hatte. Das Licht war aus, die Vorhänge waren zugezogen. Die Schatten nahmen schärfere Umrisse an, als ich einen Augenblick wie gelähmt dastand und hineinstarrte. Ich musste allen Mut zusammennehmen, um die Deckenlampe anzuschalten.
Sein Bett mit der knallblauen Steppdecke und den dazu passenden Betttüchern war ordentlich gemacht, weil Benton stets peinlich Ordnung gehalten hatte, ganz gleich, wie eilig er es haben mochte. Er hatte es nie so weit kommen lassen, dass ich ihm das Bett bezog oder mich um seine Wäsche kümmerte, und das hatte seinen Grund nicht zuletzt in seiner Selbstständigkeit und einem ausgeprägten Hang zur Unabhängigkeit gehabt, der ihn nie richtig verließ, nicht einmal im Zusammenleben mit mir. Er musste alles so machen, wie er es für richtig hielt. In der Hinsicht waren wir einander so ähnlich gewesen, dass man sich nur wundern konnte, wie wir je zueinander gefunden hatten. Ich nahm seine Haarbürste von der Kommode, weil ich wusste, dass sie sich als nützlich erweisen konnte, falls es zu einem DNS-Vergleic h kommen sollte, weil sich keine andere Identifizierungsmöglichkeit ergab. Ich trat an den kleinen Kirschholznachttisch, um mir die Bücher und die dicken Aktenordner anzusehen, die darauf gestapelt lagen.
Er hatte gerade Unterwegs nach ColdMountain gelesen, und die abgerissene Klappe eines Briefumschlags war als Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt. Er hatte es noch nicht zur Hälfte gelesen. Selbstverständlich lagen da auch die Seiten der letzten Fassung eines Handbuchs zur Verbrechensklassifizierung, das er herausgab, und der Anblick seiner Handschrift war niederschmetternd. Zärtlich blätterte ich die Manuskriptseiten um und führte den Finger über die kaum lesbaren Worte. Wieder überwältigten mich die Tränen. Dann stellte ich die Tüten auf das Bett und riss sie auf.
Die Polizei hatte hastig seinen Kleiderschrank und seine Schubladen durchgesehen, und so waren die Sachen, die sie in die Tüten gepackt hatten, nicht etwa ordentlich zusammengelegt, sondern eher gebündelt und gerollt. Ich strich ein weißes Baumwollhemd nach dem anderen glatt, auffällig gemusterte Krawatten und zwei Paar Hosenträger. Er hatte zwei leichte Anzüge dabeigehabt, und beide waren zerknittert wie Krepppapier. Da waren noch elegante Schuhe für den Abend, ein Laufdress und Socken und Slips, doch was mir dann endgültig den Rest gab, war sein Waschbeutel. Methodische Hände hatten ihn durchwühlt, und der Schraubverschluss einer Flasche Givenchy III war nicht ganz zugedreht, sodass etwas Eau de Cologne ausgelaufen war. Ich spürte seine glatt rasierten Wangen. Plötzlich sah ich ihn hinter seinem Schreibtisch in seinem ehemaligen Büro in der FBI Academy sitzen. Sein blendendes Aussehen, sein tadellos gebügelter Anzug und sein Geruch waren mir schlagartig gegenwärtig. So hatte ich ihn damals erlebt, als ich mic h bereits in ihn verliebt hatte und es nur noch nicht wusste. Säuberlich faltete ich seine Kleidung zusammen und legte sie auf einen Stapel. Mit nervösen Fingern riss ich eine weitere Tüte auf. Ich legte den ledernen, schwarzen Aktenkoffer aufs Bett und ließ die Schlösser aufschnappen.
Was mir sofort ins Auge sprang, war das Fehlen seiner Pistole, eines Colt Mustang .380, den er sich manchmal ans Fußgelenk geschnallt hatte, und ich fand es bedeutungsvoll, dass er die Pistole in der Nacht seines Todes mitgenommen hatte. Seine Neun-Millimeter trug er zwar ständig im
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