Brandwache
»Die Jerrys
können ganz London zerbomben, aber wenn sie dann hier
einmarschieren, kommen ihnen die Katzen aus den Trümmern
entgegen. Und weißt du, warum? Sie haben kein Herz, sie lieben
keinen. Das ist es doch, was die meisten von uns umbringt. Neulich
nachts kam eine alte Frau draußen in Stepney ums Leben, weil
sie ihre Katze suchen wollte. Das Biest versteckte sich in einem
Anderson-Unterstand.«
»Und wo könnte der Kater jetzt sein?«
»Irgendwo an einem sicheren Ort, darauf kannst du Gift
nehmen. Wenn er sich nicht mehr in unserer Gegend herumtreibt, dann
bedeutet das, daß wir dran sind. Früher hieß es, die
Ratten verlassen ein sinkendes Schiff, aber das stimmt nicht. Es sind
die Katzen, nicht die Ratten.«
25. Oktober
Langbys Tourist tauchte wieder auf. Er kann nicht schon wieder das
Windmill-Theater suchen. Heute trug er auch eine Zeitung unter dem
Arm, und er fragte nach Langby. Aber der war mit Allen unterwegs, um
die Feuerwehrmäntel aus Asbest zu holen. Ich sah den Namen der
Zeitung. Der Arbeiter. Ein Nazi-Blatt?
2. November
Seit einer Woche bin ich auf den Dächern und helfe ein paar
unfähigen Handwerkern, das Loch zu flicken, das die Bombe
gerissen hat. Sie machen nichts als Murks. Auf einer Seite klafft
immer noch ein Lücke, durch die ein Mann fallen könnte,
aber sie behaupten, das sei nicht schlimm, denn man fiele ja nicht
tiefer als bis zur Decke, und ›dieser Sturz bringt einen nicht
um‹. Offenbar begreifen sie nicht, daß das ein ideales
Versteck für eine Brandbombe ist.
Und mehr braucht Langby gar nicht. Es ist nicht nötig,
daß er selbst ein Feuer legt, wenn er St. Paul zerstören
will. Er muß lediglich eine Bombe brennen lassen, bis es zum
Löschen zu spät ist.
Bei den Handwerkern kam ich nicht weiter. Ich ging nach unten in
die Kirche, um mich bei Matthews zu beschweren; dabei sah ich Langby
und seinen Touristen hinter einer Säule stehen, unweit eines der
Fenster. Langby hielt eine Zeitung in der Hand und sprach mit dem
Mann. Als ich nach einer Stunde wieder aus der Bibliothek
zurückkam, standen die beiden immer noch da. Die Lücke im
Dach ist ebenfalls geblieben. Matthews meint, wir sollen Bretter
darüberlegen und das Beste hoffen.
5. November
Ich habe den Versuch aufgegeben, mein Gedächtnis anzuzapfen.
Ich bin so übermüdet, daß ich nicht mal Informationen
über die Zeitung abrufen kann, deren Namen ich weiß.
Doppelte Wache ist jetzt das übliche. Unsere Putzfrauen haben
uns mittlerweile verlassen (wie der Kater), so daß es in der
Krypta ruhig ist, aber ich kann trotzdem nicht schlafen.
Und wenn ich mal eindöse, träume ich. Gestern
träumte ich, Kivrin sei auf den Dächern, angezogen wie eine
Heilige. »Worin bestand das Geheimnis deines Praktikums?«
fragte ich sie. »Was solltest du herausfinden?«
Mit einem Taschentuch putzte sie sich die Nase. »Zweierlei.
Erstens, daß Schweigen und Demut die heiligen Pflichten des
Historikers sind. Zweitens«, sie unterbrach sich und nieste ins
Taschentuch, »daß man nicht in den
Ü-Bahn-Schächten schlafen soll.«
Ich setze meine ganze Hoffnung darauf, daß ich mir ein
Stimulans verschaffen und eine Trance herbeiführen kann. Aber
das ist ein Problem. Ich bin mir sicher, daß es für
chemische Endorphine noch zu früh ist, und wahrscheinlich gibt
es auch noch keine Halluzinogene. An Alkohol ist heranzukommen, aber
ich brauche etwas Konzentrierteres als Ale, das einzige
alkoholhaltige Getränk, dessen Namen ich weiß. Ich traue
mich nicht, einen von der Wache zu fragen. Langby habe ich schon
mißtrauisch genug gemacht. Ich muß also wieder mal das
OEL zu Rate ziehen, um ein Wort nachzuschlagen, das ich nicht
kenne.
11. November
Der Kater ist wieder da. Langby war noch mal mit Allen unterwegs,
sie versuchen immer noch, die Asbestmäntel zu bekommen, deshalb
konnte ich es wagen, St. Paul zu verlassen. Ich lief zu einem
Lebensmittelgeschäft, um Vorräte zu kaufen und, wie ich
hoffte, ein Stimulans. Es war schon spät, und es gab
Fliegeralarm, ehe ich Cheapside erreichte, aber normalerweise
beginnen die Angriffe erst, wenn es ganz dunkel ist. Es dauerte eine
Weile, bis ich alle Lebensmittel zusammen hatte und den Mut fand, den
Ladenbesitzer nach Alkohol zu fragen. Er sagte mir, ich solle in eine
Kneipe gehen. Als ich aus dem Geschäft nach draußen trat,
war mir zumute, als fiele ich in ein tiefes Loch.
Ich hatte weder eine Ahnung, wo St. Paul lag, noch wo ich mich
befand. Der Bürgersteig, auf dem ich stand, war
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