Brandzeichen
vieler Menschen, selbst in dieser aufgeklärten Zeit, ist ein armer Schwarzer, der versagt hat, überhaupt kein Mann - er ist einfach bloß ein Nigger.« Das war das einzige Mal, daß sein Vater je das verhaßte Wort gebraucht hatte. Lem war mit der Überzeugung aufgewachsen, daß jeder Erfolg, den er für sich buchte, auf der Klippe des Lebens nur einen unsicheren Halt für die Zehen bedeutete; daß er stets in Gefahr war, von widrigen Winden von jener Klippe geblasen zu werden, und es einfach nicht wagen durfte, nachzulassen in seiner Entschlossenheit, sich festzuhalten und zu einem breiteren, sicheren Felsband emporzuklettern.
Er schlief schlecht, sein Appetit war gestört. Wenn er aß, hatte er nach der Mahlzeit unweigerlich Verdauungsstörungen. Seine Leistungen beim Bridge waren eine Katastrophe, weil er sich nicht mehr auf die Karten konzentrieren konnte; bei ihren wöchentlichen Zusammenkünften mit Walt und Audrey Gaines waren die Johnsons regelmäßig die Verlierer.
Er wußte, warum er so besessen war, jeden Fall erfolgreich abzuschließen, aber dieses Wissen half ihm nicht, seine Besessenheit loszuwerden.
Wir sind, was wir sind, dachte er, und vielleicht ist die einzige Chance, das zu ändern, dann, wenn das Leben uns eine Überraschung beschert, etwa so, als würde man mit einem Baseballschläger eine Scheibe einschlagen und damit den festen Griff der Vergangenheit zerschlagen.
Also starrte er in den grellen Julitag hinaus und brütete über seinen Problemen.
Im Mai hatte er vermutet, irgend jemand habe den Retriever aufgenommen und ihm ein Zuhause gegeben. Schließlich war er ein schönes Tier, und wenn er jemandem auch nur einen Bruchteil seiner Intelligenz offenbarte, war er geradezu unwi derstehlich. Er würde also bestimmt einen Zufluchtsort finden. Deshalb rechnete Lem damit, daß es wesentlich schwieriger sein würde, den Hund zu finden, als den Outsider aufzuspüren. Eine Woche, um den Outsider zu finden, hatte er gedacht, und vielleicht einen Monat, um den Retriever in die Hand zu bekommen. Er hatte an jedes Tierheim und jeden Veterinär in Kalifornien, Nevada und Arizona Rundschreiben geschickt und eindringlich um Unterstützung bei der Auffindung des Golden Retrievers gebeten. In dem Rundschreiben behauptete er, das Tier wäre aus einem medizinischen Forschungslabor entkommen, in dem wichtige Krebsexperimente durchgeführt würden. Wenn der Hund nicht mehr wiederaufgefunden werde, so stand in dem Rundschreiben, bedeute das den Verlust von einer Million Dollar an Forschungsgeldern und unzähligen Stunden Arbeitszeit - und könnte ernstlich die Entwicklung eines Heilmittels für bestimmte bösartige Wucherungen behindern. Das Rundschreiben enthielt ein Foto des Hundes und den Hinweis, daß er innen am rechten Ohr eine Labortätowierung trage: die Nummer 33-9. In einem Begleitschreiben bat Lem nicht nur um Unterstützung, sondern auch um vertrauliche Behandlung. Die Aussendung war unterdessen alle acht Tage wiederholt worden, und ein Dutzend NSA-Agenten hatten nichts anderes getan, als Tierheime und Tierärzte in den drei Staaten anzurufen, um sicher sein zu können, daß man sich an das Flugblatt erinnerte und weiterhin nach einem Retriever mit einer Tätowierung Ausschau hielt. Unterdessen konnte die eindringliche Suchaktion nach dem Outsider mit einigem Vertrauen auf wenig besiedelte Gebiete Deschränkt werden, weil er ohne Zweifel zögern würde, sich zu zeigen. Und die Gefahr, daß jemand ihn für so nett hielt, daß er ihn mit nach Hause nahm, bestand wirklich nicht. Außerdem, der Todesfährte, die der Outsider hinterließ, war leicht zu folgen. Im Anschluß an die Morde in Bordeaux Ridge östlich von Yorba Linda war die Kreatur in die unbesiedelten Chino-Hügel geflohen. Von dort war er nach Norden gegangen und am 9. Juni am Ostrand des County Los Angeles aufgetaucht, wo seine Anwesenheit in dem halb ländlichen Diamond Bar aufgefallen war. Bei der Tierbehörde des County Los Angeles waren zahlreiche - und hysterische -Berichte von Bewohnern von Diamond Bar bezüglich Angriffen wilder Tiere auf Haustiere eingegangen. Andere riefen die Polizei an, weil sie glaubten, das Gemetzel sei das Werk eines Verrückten. In zwei Nächten waren in Diamond Bar mehr als zwei Dutzend Haustiere in Stücke gerissen worden, und der Zustand der Kadaver ließ bei Lem keine Zweifel offen, daß der Outsider der Täter war. Dann blieb die Spur mehr als eine Woche eiskalt, bis zum Morgen des 18. Juni,
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