Brandzeichen
Delta Force entschieden hatte, hatte man ihn dazu ermutigt, seine Sprachstudien fortzusetzen; seine Vorgesetzten waren der Ansicht gewesen, die eskalierende politische Instabilität in Mittel- und Südamerika sei praktisch eine Garantie dafür, daß Delta immer häufiger Anti-Terroristen-Operationen in spanischsprachigen Ländern werde durchführen müssen. Delta lag jetzt viele Jahre zurück, aber der Kontakt mit dem ziemlich großen Spanisch sprechenden Bevölkerungsteil Kaliforniens hatte es mit sich gebracht, daß er die Sprache immer noch relativ flüssig beherrschte. Wenn er jetzt Einstein in Spanisch Befehle gab oder Fragen stellte, starrte der Hund ihn dumm an, wedelte mit dem Schweif, reagierte aber ansonsten nicht. Blieb Travis beim Spanischen, legte der Retriever den Kopf schief und wuffte, als wollte er fragen, ob das ein Witz sein solle. Falls der Hund geistige Bilder entziffern konnte, die im Bewußtsein des Sprechenden entstanden, dann würde er sie doch sicher unabhängig von der Sprache entziffern können, die diese Bilder inspirierte.
»Er ist kein Gedankenleser«, sagte Travis.
»Sein Genie hat Grenzen - Gott sei Dank!« Tag für Tag saß Nora auf dem Boden in Travis' Wohnzimmer oder auf der Terrasse, erklärte Einstein das Alphabet und versuchte ihm klarzumachen, wie aus jenen Buchstaben Wörter gebildet würden und in welcher Beziehung die gedruckten Wörter zu den gesprochenen stünden, die er bereits beherrschte. Hier und da übernahm Travis die Unterrichtsstunden, um Nora eine Ruhepause zu verschaffen, aber die meiste Zeit saß er nur daneben und las, weil er von sich behauptete, er besäße nicht die Geduld, um ein Lehrer zu sein. Sie benutzte ein Ringbuch, um für den Hund ein eigenes Lesebuch zusammenzustellen. Auf die linke Seite klebte sie jeweils ein aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Bild und setzte dann auf der rechten Seite in Blockbuchstaben den Namen des abgebildeten Gegenstandes ein, alles einfache Wörter: BAUM, AUTO, HAUS, MANN, FRAU, STUHL ... Während sie neben Einstein saß, der das >Lesebuch< gelehrig anstarrte, deutete sie dann immer zuerst auf das Bild und anschließend auf das Wort und wiederholte es einige Male deutlich. Am letzten Tag des Juni bereitete Nora ein gutes Dutzend nicht mit Aufschrift versehener Bilder auf dem Boden aus.
»Jetzt machen wir wieder Prüfung«, erklärte sie Einstein.
»Wir wollen sehen, ob du es heute besser kannst als am Montag.« Einstein saß ganz aufrecht da, die Brust vorgeschoben, den Kopf erhoben, als wäre er voll Vertrauen in seine Fähigkeiten.
Travis saß im Lehnsessel und schaute zu.
»Wenn du versagst, Pelzgesicht, tauschen wir dich gegen einen Pudel ein«, meinte er, »einen, der Purzelbaum schlagen, sich totstellen und um Essen betteln kann.« Nora freute, daß Einstein Travis ignorierte.
»Jetzt ist nicht die Zeit für leichtfertige Reden«, tadelte sie.
»Ich bitte um Nachsicht, Professor«, sagte Travis. Nora zeigte dem Hund eine Karte, auf der in Blockbuchstaben BAUM stand. Der Retriever ging ohne Fehl auf das Foto einer Fichte zu und deutete darauf, indem er es mit der Nase berührte. Als sie eine Karte hob, auf der AUTO stand, legte er eine Pfote auf das Foto des Wagens, und als sie HAUS hochhob, beschnüffelte er das Bild einer Villa im Kolonialstil. Auf diese Weise arbeiteten sie fünfzig Wörter durch, und der Hund ordnete zum erstenmal jedes gedruckte Wort dem Bild richtig zu, das es darstellte; Dieser Fortschritt entzückte Nora, und Einstein wollte nicht aufhören, mit dem Schweif zu wedeln. Travis meinte:
»Nun, Einstein, aber bis du Proust lesen kannst, ist es noch weit.« Nora ärgerte es, daß er ihren Musterschüler verspottete, und sie sagte:
»Er macht das gut! Großartig! Schließlich können Sie nicht erwarten, daß er über Nacht Oberschulniveau erreicht. Er lernt schneller, als ein Kind lernen würde.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich! Viel schneller, als ein Kind lernen würde.«
»Nun, dann hat er sich vielleicht ein paar Hundekuchen verdient.« Einstein rannte sofort in die Küche, um die Schachtel mit den Hundekuchen zu holen.
Der Sommer verging, und Travis kam aus dem Staunen nicht heraus, wie rasch Nora bei ihrem Leseunterricht mit Einstein Fortschritte machte.
Mitte Juli stiegen sie von ihrem selbstgemachten Lesebuch zu Bilderbüchern für Kinder auf und nahmen sich solche von Dr. Seuss, Maurice Sendak, Phil Parks, Susi Bohdal, Sue Dreamer, Mercer Mayer und vielen anderen vor.
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