Brandzeichen
argwöhnischen Blicken zu mustern. Zum Teil, um das Thema zu wechseln und den Argwohn des Tierarztes zu zerstreuen, zum Teil auch, weil sie einfach die Antwort kennen wollte, sagte Nora:
»Also schön. Aber hat Einstein nun Staupe zweiten Grades?«
»Nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, befindet er sich noch im ersten Stadium«, erklärte Keene.
»Und wenn in den nächsten vierundzwanzig Stunden keine ernsteren Symptome auftreten, haben wir gute Chancen, daß die Krankheit nicht über das erste Stadium hinausgeht und wir sie sogar heilen können.«
»Und im ersten Stadium gibt es keine Gehirnschäden?« fragte Travis mit einer Eindringlichkeit, die Keene neuerlich dazu veranlaßte, die Stirn zu runzeln.
»Nein. Im ersten Stadium nicht.«
»Und wenn er im ersten Stadium bleibt«, sagte Nora, »wird er nicht sterben?« Mit seiner weichsten Stimme und bemüht, sie zu beruhigen, sagte James Keene:
»Nun, die Chancen sind jetzt sehr groß, daß er Staupe des ersten Stadiums überlebt - ohne Nachwirkungen: Sie sollen wissen, daß seine Genesungschancen tatsächlich recht gut sind. Aber ich will Ihnen auch keine falschen Hoffnungen machen. Das wäre grausam. Selbst wenn die Krankheit nicht über das erste Stadium hinausgeht... könnte Einstein sterben. Die Chancen sprechen fürs Überleben, aber der Tod ist möglich.« Nora weinte jetzt wieder. Sie hatte gedacht, sie hätte sich im Griff, könne stark sein. Und doch weinte sie jetzt. Sie ging zu Einstein, setzte sich neben ihn auf den Boden und legte ihm eine Hand auf die Schulter, einfach um ihn wissen zu lassen, daß sie da war.
Keene wurde jetzt angesichts ihres Gefühlsausbruchs ungeduldig und zugleich verwirrt. In seine Stimme schlich sich jetzt etwas Strenge, als er sagte:
»Hören Sie, wir können nicht mehr tun, als ihn erstklassig versorgen und auf das Beste hoffen. Er wird natürlich hierbleiben müssen, die Staupe-Behandlung ist kompliziert und muß unter ständiger tierärztlicher Überwachung erfolgen. Ich muß ihn intravenös ernähren und mit Antibiotika versorgen ... Und falls er anfängt, Krämpfe zu bekommen, kommen Sedativa hinzu.«
Einstein zitterte unter Noras Hand, als hätte er diese schlimme Aussicht gehört und begriffen.
»Schön. In Ordnung. Ja«, sagte Travis.
»Es ist offensichtlich so, daß er hier in Ihrer Praxis bleiben muß. Wir werden bei ihm bleiben.«
»Das ist nicht nötig ...«, begann Keene.
»Richtig, ja - nötig ist es nicht«, sagte Travis schnell.
»Aber wir wollen bleiben, das geht schon. Wir können hier auf dem Boden schlafen«
»Oh, ich fürchte, das wird nicht gehen«, sagte Keene.
»O doch, ganz sicher geht das«, sagte Travis in seinem Eifer, den Tierarzt zu überzeugen.
»Machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen, Doktor. Wir kommen schon klar. Einstein braucht uns hier, also werden wir bleiben, und wir bezahlen Sie natürlich für die Ungelegenheiten.«
»Aber ich führe kein Hotel!«
»Wir müssen bleiben!« sagte Nora entschieden.
»Jetzt hören Sie mal«, meinte Keene.
»Ich bin ja ein vernünftiger Mann, aber...« Travis packte mit beiden Händen die Rechte des Tierarztes und hielt sie zur Verblüffung Keenes fest.
»Hören Sie, Dr. Keene, bitte, lassen Sie mich versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich weiß, es ist eine ungewöhnliche Bitte. Ich weiß, wir müssen auf Sie wie zwei Verrückte wirken, aber wir haben unsere Gründe. Und es sind gute Gründe. Das ist kein gewöhnlicher Hund, Dr. Keene. Er hat mir das Leben gerettet...«
»Und meines ebenfalls«, sagte Nora.
»Und er hat uns zusammengebracht«, sagte Travis.
»Ohne Einstein wären wir einander nie begegnet, hätten nie geheiratet und wären beide tot.« Erstaunt sah Keene zuerst Travis, dann Nora an.
»Sie meinen, er hat Ihnen das Leben gerettet - buchstäblich?«
»Buchstäblich«, sagte Nora.
»Und dann hat er Sie zusammengebracht?«
»Ja«, sagte Travis.
»Er hat unser Leben mehr verändert, als wir sagen oder erklären können.« Der Tierarzt, immer noch von Travis festgehalten, sah Nora an, blickte dann auf den keuchenden Retriever hinab, schüttelte den Kopf und sagte:
»Ich bin ganz wild auf Geschichten über Heldentaten von Hunden. Die möchte ich ganz sicher auch hören.«
»Wir erzählen Ihnen alles«, versprach Nora. Aber, dachte sie dabei, es wird eine sorgfältig redigierte Version der Wahrheit sein.
»Als ich fünf Jahre alt war«, meinte James Keene,
»hat mich ein schwarzer Labrador vor dem
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