Brandzeichen
Spaziergang im Freien riskieren zu können. Bisweilen bewegte er sich noch etwas schwankend, aber er taumelte nicht mehr bei jedem Schritt. In der Tierarztpraxis hatte er seine sämtlichen Impfungen bekommen; es bestand also keine Gefahr, daß er sich nach der Staupe, die er gerade überwunden hatte, die Tollwut zuzöge.
Das Wetter war milder als in den vorangegangenen Wochen, mit Temperaturen um die fünfzehn Grad und keinem Wind. Die spärlichen Wolken waren weiß, die Sonne war, wenn sie sich nicht dahinter verbarg, weich und kosend.
Einstein begleitete Travis auf einer Inspektionsrunde zu den Infrarotsensoren rund um das Haus und zu den Distickstoff-monoxyd-Tanks in der Scheune. Sie bewegten sich ein wenig langsamer als beim letzten Mal, aber Einstein schien es Freude zu machen, wieder im Dienst zu sein.
Nora befand sich in ihrem Atelier und arbeitete an einem neuen Bild: einem Porträt Einsteins. Er wußte nicht, daß er ih re neueste Leinwand zierte. Das Bild sollte eine Weihnachtsüberraschung für ihn sein und, wenn es dann am Festtag enthüllt würde, über dem Kamin im Wohnzimmer aufgehäng t werden. Als Travis und Einstein aus der Scheune traten, fragte Travis:
»Kommt er näher?« Auf diese Frage hin verfiel Einstein in seine übliche Routine, wenn auch diesmal mit weniger Aufwand, weniger Schnüffeln und einer nur kurzen Untersuchung des sie umgebenden Waldes. Als er zu Travis zurückkehrte, winselte der Hund ängstlich.
»Ist er dort draußen?« fragte Travis. Einstein gab keine Antwort. Er blickte wieder zum Wald sichtlich verwirrt.
»Kommt er immer noch näher?« fragte Travis. Der Hund gab keine Antwort.
»Ist er näher als früher?« Einstein trottete im Kreis, beschnüffelte den Boden, beschnüffelte die Luft, legte den Kopf auf die eine Seite, dann auf die andere. Schließlich kehrte er zum Haus zurück und blieb an der Tür stehen, schaute Travis an und wartete geduldig. Als sie im Haus waren, lief Einstein direkt zur Speisekammer. UNKLAR. Travis starrte das Wort auf dem Boden an.
»Unklar?« Einstein holte sich weitere Buchstaben und schob sie mit der Nase zurecht. NICHT KLAR.
»Sprichst du von deiner Fähigkeit, den Outsider zu fühlen?« Ein kurzes Schweifwedeln: JA.
»Du kannst ihn nicht mehr wahrnehmen?« Ein Bellen: NEIN.
»Glaubst du... er ist tot?« WEISS NICHT.
»Oder dein Spürsinn funktioniert nicht, wenn du krank bist oder geschwächt wie jetzt.«
VIELLEICHT. Travis sammelte die Steine mit den Buchstaben auf und sortierte sie wieder ein. Er überlegte einen Augenblick. Schlimme Gedanken. Entnervende Gedanken. Sie hatten ein Alarmsystem, das ihren Besitz schützte, ja; aber eigentlich verließen sie sich darauf, daß Einstein ihnen eine Vorwarnung lieferte. Travis hätte sich angesichts der Vorsichtsmaßnahmen, die er ergriffen hatte, und mit seiner Ausbildung bei Delta Force eigentlich sicher fühlen müssen, hätte darauf vertrauen sollen, daß es ihm gelingen werde, den Outsider zu vernichten. Aber das Gefühl quälte ihn, daß er Irgendwo in ihren Verteidigungsanlagen eine Lücke gelassen haben könnte und er, wenn es zur Krise kam, Einsteins Fähigkeiten und ganze Kraft brauchen würde, um eine unerwartete Situation zu meistern.
»Du wirst, so schnell du kannst, wieder gesund werden müssen«, erklärte er dem Retriever.
»Du wirst, selbst wenn du keinen Appetit hast, versuchen müssen zu essen. Du wirst so viel wie möglich schlafen müssen, um deinem Körper Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Und außerdem solltest du nicht die halbe Nacht am Fenster verbringen und dir Sorgen machen.«
HÜHNERSUPPE.
Travis lachte und meinte:
»Das könnten wir ja auch versuchen.«
BOILERMAKER TÖTET BAKTERIEN.
»Wie kommst du denn darauf?«
BUCH. WAS IST BOILERMAKER?
»Ein Schuß Whisky in einem Glas Bier«, erklärte Travis.
Einstein dachte einen Augenblick darüber nach.
TÖTET BAKTERIEN? ABER WERDE BIERTRINKER.
Travis lachte und zerzauste Einstein das Fell.
»Du bist ein richtiger Spaßmacher, Pelzgesicht.« Er drückte den Hund an sich, dann saßen sie beide in der Speisekammer und lachten, jeder auf seine Art.
Trotz der Scherze wußte Travis, daß Einstein der Verlust seiner Fähigkeit, den Outsider wahrzunehmen, zutiefst beunruhigte. Die Witze waren ein Abwehrmechanismus, einfach etwas, womit er die Furcht verdrängen wollte.
Am Nachmittag schlief Einstein, von dem kurzen Gang um das Haus erschöpft, während Nora fieberhaft in ihrem Atelier malte.
Weitere Kostenlose Bücher