Brandzeichen
er gar meinte, sie sei nicht wirklich talentiert ? Abgesehen von der Zerstreuung, die Bücher ihr boten, war die Malerei Noras Trost in vielen dunklen, einsamen Jahren gewesen. Sie hielt sich für gut, vielleicht sogar für sehr gut, obwohl sie zu schüchtern und verletzlich war, um diese Überzeugung vor irgend jemandem auszusprechen. Was, wenn sie unrecht hatte? Was, wenn sie kein Talent besaß und es also nur ein Zeitvertreib gewesen war? Ihre Kunst war das wesentliche Medium, durch das sie selbst sich definierte. Sie besaß sonst sehr wenig, auf das sich ihr so dünnes, zerbrechliches Selbstgefühl stützen konnte; also hatte sie ein geradezu verzweifeltes Bedürfnis, an ihr Talent zu glauben. Travis' Meinung bedeutete ihr unaussprechlich viel, und eine negative Reaktion seinerseits auf ihre Malerei, fürchtete sie, würde sie vernichten. Aber nachdem sie Garrison Dilworths Büro verlassen hatten, wußte Nora, daß die Zeit gekommen war, das Risiko auf sich zu nehmen. Die Wahrheit über Violet Devon war der Schlüssel, mit dem Nora den Kerker ihrer Gefühle aufgeschlossen hatte. Sie würde viel Zeit brauchen, aus ihrer Zelle herauszutreten, durch den langen Korridor hinaus in die Welt zu treten -aber die Reise würde unvermeidbar weitergehen. Deshalb mußte sie sich allen Erfahrungen des neuen Lebens öffnen, und das schloß auch die schreckliche Möglichkeit des Abgelehntwerdens und der schweren Enttäuschung mit ein. Ohne Risiko gab es keine Hoffnung auf Gewinn. Als sie wieder im Haus waren, überlegte sie, Travis mit hinaufzunehmen, damit er sich ein halbes Dutzend ihrer letzten Gemälde ansähe. Aber die Vorstellung, einen Mann in ihrem Schlafzimmer zu haben, selbst mit den unschuldigsten Absichten, war zu beunruhigend. Garrison Dillworths Enthüllungen hatten sie befreit, ihre Welt war im Begriff, sich rasch auszuweiten. Aber so frei war sie noch nicht. Statt dessen bestand sie darauf, daß Travis und Einstein auf einem der großen Sofas in dem mit Möbeln überladenen Wohnzimmer Platz nahmen, wohin sie ihnen einige ihrer Bilder zum Betrachten bringen wollte. Sie schaltete sämtliche Lichter ein, zog die Vorhänge von den Fenstern und sagte:
»Ich bin gleich wieder zurück.« Aber oben stand sie zappelig vor den mehr als zehn Gemälden in ihrem Schlafzimmer, konnte sich nicht entscheiden, welche zwei sie ihm zuerst bringen sollte. Schließlich entschied sie sich für vier, obwohl es etwas unbequem war, so viele auf einmal zu tragen. Auf halbem Wege blieb sie zitternd stehen und beschloß, die Bilder wieder hinaufzutragen und andere auszuwählen. Aber sie ging nur vier Stufen zurück, dann wurde ihr klar, daß sie solcherart den ganzen Tag in ihrer Unschlüssigkeit verbringen würde. Sie rief sich in Erinnerung, daß ohne Risiko nichts zu gewinnen sei, atmete tief durch und ging rasch mit den vier Gemälden, die sie ausgewählt hatte, die Treppe hinunter. Sie gefielen Travis. Mehr noch: Er geriet beinahe in Verzükkung.
»Mein Gott, Nora, das ist keine Hobbymalerei! Das ist wirklich etwas! Das ist Kunst!« Sie stellte die Arbeiten auf vier Stühle, aber es genügte ihm nicht, sie nur vom Sofa aus zu studieren. Er stand auf, um sie aus der Nähe zu betrachten, ging von einer Leinwand zur anderen, dann wieder zurück.
»Sie sind eine ganz superbe Fotorealistin«, sagte er.
»Okay, ich bin kein Kunstkritiker. Aber, bei Gott, Sie sind so geschickt wie Wyeth. Aber da ist noch was anderes ... das Element des Unheimlichen in diesen zwei...« Seine Komplimente hatten ihr die Röte ins Gesicht getrieben, sie mußte kräftig schlucken, um ihre Stimme wiederzufinden.
»Ein bißchen surrealistisch.« Sie hatte zwei Landschaften und zwei Stilleben gebracht. Jeweils eines war tatsächlich streng fotorealistisch. Aber die beiden anderen waren Fotorealismus mit stark surrealistischem Einschlag. Im Stilleben zum Beispiel waren einige Wassergläser, ein Krug, mehrere Löffel und eine durchgeschnittene Limone geradezu peinigend genau wiedergegeben, auf den ersten Blick wirkte die Szene sehr realistisch, auf den zweiten Blick allerdings fiel auf, daß eines der Gläser in die Fläche hineinschmolz, auf der es stand, und daß ein Limonenschnitz die Wand eines der Gläser durchdrang, als wäre das Glas um ihn herum geformt.
»Die sind brillant, Nora, ohne Zweifel«, sagte er.
»Haben Sie noch mehr?« Ob sie noch mehr hatte! Sie begab sich noch zweimal in ihr Schlafzimmer und kehrte mit sechs weiteren Gemälden zurück.
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