Brans Reise
roten Wangen.
»Komm«, sagte Vater. »Das Tor wird geöffnet.«
Bran kletterte in den Schlitten. Dann hielt er sich die Hand über die Augen und ließ seinen Blick an der Felswand emporklettern. Die Schneewehen lagen noch immer unverändert da. Hirten sprangen zwischen den Schafen herum und trieben sie durch das Tor. Dann trieb Vater die Pferde an und der Schlitten rutschte in die Spur. Die eisenbeschlagenen Eichentüren waren sperrangelweit geöffnet und die vordersten Schlitten fuhren bereits über die Felsenbrücke nach unten. Bran drehte sich zu den Hütten um, als der Schlitten in den Schatten der Felswand glitt. Der Vogelmann blieb einsam zurück. Er trug Kirgit in seinen Armen. Er ist inzwischen mehr Vogel als Mensch, dachte Bran. Die schwarzen Federn, die seine Haut verdeckten, waren länger als früher und seine Arme glichen Flügeln. Karain sah aus wie der Himmelsvogel, er war Kraggs Abbild auf Erden. Da wandte sich Karain plötzlich um und schritt auf die Felswand zu. In diesem Moment glitt der Schlitten durch das Tor hinaus auf die Felsenbrücke. Bran zog die Pelze enger um sich und sah zu den Schlitten weit unter ihm hinunter. Er fragte sich, wie lange sie warten mussten.
Auf einer kleinen Anhöhe kaum fünf Bogenschüsse von der Felsenbrücke entfernt schlugen sie das Lager auf. Die Männer trieben die Schafe zusammen und stellten die Schlitten wie eine Burgmauer im Kreis auf. Bran musste wachen und nach Vokkern Ausschau halten, denn Vater war müde und Dielan wollte Gwen nicht allein lassen. So stand er als Einziger am Ostende des Lagers und lehnte sich auf seinen Speer. Frühling lag im Wind, das konnte er spüren. Der Schnee unter ihm schmolz und ließ seine Füße nass werden. Hinter sich hörte er das Knistern des Feuers und roch das gebratene Schweinefleisch. Doch zuerst dachte er an den Vogelmann. Karain war jetzt allein dort oben hinter den Klippen, am Fuße des Berges. Er betrauerte seine tote Frau und wartete auf die Lawine, vor der er selbst gewarnt hatte.
Denn Karain, der Vogelmann, hatte das Felsenvolk an diesem Morgen zu sich gerufen. Er hatte sich auf den Wagen vor dem Stall gestellt und alle hatten sich vor ihm versammelt. Der Vogelmann hatte sein Federgesicht zum Himmel gewandt und geschrien, nicht wie ein Mensch, sondern wie der Rabe, in den er sich verwandeln sollte. Und sie alle begriffen, dass Kirgit, Nojs Tochter, die Frau, die Karain seit seiner Jugend geliebt hatte, tot war. Noj schlug seine Arme um Viani und die alte Frau schluchzte an seiner Brust. Bran sah zu Boden, um sich herum hörte er Männer und Frauen weinen. Kirgit war seit vielen Tagen krank gewesen und weder Kräuter noch die Gebete zu den Namenlosen hatten geholfen. Noj und Viani traten von den anderen weg und gingen in Karains Hütte, doch da hob der Vogelmann die Arme und zeigte mit seinen Krallen ins Gebirge.
»Hört«, rief er. »Hört mir zu, Freunde!«
Männer und Frauen wischten ihre Tränen weg und sahen wieder zu ihm hoch. Der Vogelmann weinte nicht, doch wie sollte er, der er mehr Vogel als Mensch war, weinen?
»Kragg hat zu mir gesprochen!« Er wendete sich zum Tal hin, und in diesem Moment kam es Bran so vor, als hätte er eine Veränderung in seinem federbedeckten Gesicht erkannt, etwas in der Art, wie er unter seinen müden Augenlidern hinweg zu den Bergen emporsah. Er war alt geworden.
»Kragg ist aus den Bergen heruntergeflogen«, sagte Karain. »Als Kirgit zum letzten Mal ihre Augen geschlossen hatte, kam er in Gestalt des Raben zu mir. Er sagte, eine Lawine wird kommen, die das Dorf vernichtet. Das sei die Warnung, die ich euch anvertrauen soll. Die einzige.«
Dann kletterte Karain vom Wagen nach unten und ging zu seiner toten Frau in die Hütte. Bran wartete dort am Wagen und Dielan und viele andere taten das Gleiche. Er wandte sich zum Gebirge und spürte den warmen Wind. Er sah die weinenden Eiszapfen und den nassen Schnee auf den Hüttendächern, doch der Gebirgshang lag mit seinen runden Schneeverwehungen ganz ruhig da. Nichts deutete auf eine Lawine hin.
Doch Noj trat aus Karains Hütte und bat die Männer, die Schlitten vor die Pferde zu spannen und alles, was sie nur konnten, einzupacken. Wenige Zeit später saß Bran im Schlitten und sah Karain allein mit Kirgit auf seinen Armen zurückbleiben. Und das Felsenvolk zog auf die Ebene hinaus.
Wie so oft, wenn er Wache hielt, schlief Bran dort am östlichen Ende des Lagers ein. Er lehnte sich auf seinen Speer und träumte
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