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Brans Reise

Titel: Brans Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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gedrehten Handflächen zugewandt, so als ob der Riese dort im Schatten etwas trug, das er nicht sehen konnte. Vor den Händen war ein Tisch, ein solider Steinblock, an dem sie niederkniete.
    Sogar hier drinnen hörte er die Musik vom Hafen. Die Trommeln schlugen wie ein gewaltiges Herz, und die Flöten ließen ihn mit ihren schwebenden Tönen schwindlig werden. Während er auf sie zuging, wichen die Schatten von dem Riesen. Er sah aus wie ein Krieger, denn er trug einen breiten Waffengürtel und seine Beine waren von Metallplatten verdeckt.
    Sein Oberkörper war nackt und seine Muskeln lagen stark unter der steinernen Haut. Bran blieb einen Augenblick stehen, als er den Kopf des Riesen erblickte, denn das war nicht der Kopf eines Menschen. Das Gesicht war hinter einer Maske verborgen, und aus dem Kopf heraus wuchs ein gezacktes Hirschgeweih.
    »Bete mit mir«, flüsterte sie.
    Er sah sie an. Zitterte sie?
    »Für Cernunnos. Komm, knie neben mir nieder.«
    Bran ging die letzten Schritte zu ihr vor. Der Schatten des Götterbildes lag über dem Steintisch. Er kniete neben ihr nieder und sah zu dem Gesicht mit der Maske empor. Das war also der, der das Geweih trägt, dachte er. Der Gott, von dem die Skerge sprachen.
    »Schließ die Augen.« Tirs Stimme klang so nah. »Er wird jetzt zu dir sprechen.«
    Bran tat, was sie wollte, doch außer den singenden Menschen am Hafen hörte er nichts. Er hörte die Trommeln, die Flöten und er sah sie vor den Feuern tanzen. Doch jeder Mann trug Brans eigenes Gesicht und jede Frau das von Tir. Und sie tanzten wie spielende Pferde, wie Vögel, wie die Flammen selbst.
    »Ich…« Tir stand auf und schnappte nach Luft. »Ich habe seine Stimme gehört.«
    Sie legte die Hand auf ihre Brust. »Ich habe es hier drinnen gespürt. Eine Wärme.«
    Sie schluckte und begann kurz und schnell zu atmen, wie ein Hirsch, der in eine Schlucht getrieben worden ist. Bran wandte sich von dem Götterbild ab und ging auf sie zu. Als er ihre Arme berührte, lehnte sie sich an ihn und schmiegte sich an seine Brust. Er legte seine Hände vorsichtig auf ihren schlanken Rücken und spürte, dass sie zitterte.
    »Ich habe Angst«, flüsterte sie.
    Er antwortete nicht. Denn was hätte er sagen können? Auch er fürchtete sich. Er fürchtete sich vor dem Körper, den er umarmte, er fürchtete sich vor ihr. Nicht er war es, der ihr über den Rücken streichelte, es war das Geräusch der Trommeln und Flöten. Das jagte das Feuer durch seine Adern. Das verwandelte ihn.
    Jetzt sah sie ihn an. Tränen rannen über ihre Wangen. Er roch ihre Haut. Er roch ihre Wärme.
    Ein Windhauch bahnte sich einen Weg durch die halb offene Tür. Die Fackeln flackerten und kämpften um ihr Leben.
    »Das Feuer«, sagte sie. »Es darf nicht ausgehen.«
    Sie schlüpfte aus seinen Armen, ging mit raschen Schritten auf die Tür zu und drehte sich wieder um. »Die Türen.« Sie sprach mit ihm, doch er sah nur die Tränen, die aus ihren Augen rannen. »Wir müssen sie schließen.« Sie kniff die Augen zu und sah weg. »Wir sollten nicht hier sein.«
    Da rannte er zu ihr. Er packte ihre Hände und zog sie an sich.
    »Tir.« Die Worte lagen schwer in seinem Hals. »Geh nicht.« Er berührte ihr Haar, ließ es durch die Finger gleiten und schob es von ihren nassen Wangen weg.
    Sie schloss die Augen. Sie hatte aufgehört zu zittern. Er spürte ihre Finger auf den seinen. Sie führten seine Hand zu ihrem Hals, ließen sie den Rand ihres Kinns berühren, die Wangenknochen und Augenlider. Er spürte ihren Atem auf seinen Augen. Da legte er sie auf die Steinplatten und umarmte sie dort.
    Der Wind fegte durch den Saal. Nur die hintersten Fackeln, die den Steintisch und das Götterbild erleuchteten, brannten noch. Cernunnos Arme streckten sich den zweien zwischen den Säulen entgegen. Die Bronzetrommeln schlugen seinen Herzschlag.

Über das Meer nach Norden
     
    V isikal, Vare und Ylmer standen an Deck des zwölften Langschiffes. Es war Visikals Schiff, und das Bild der Axt flatterte vom Achtersteven.
    Die Skerge waren still. Sie sahen zu den Türmen empor, den Häusern und Gassen. Noch war die Sonne über dem Hang nicht aufgegangen, und Tirga schlief. Niemand war draußen, niemand außer den Schriftgelehrten. Gewöhnlich hielten sich die alten Männer im Fünften Turm auf, und nur die Galuenen und die Lehrlinge, die ihnen das Essen brachten und Zeichen lernten, sprachen mit ihnen. Doch jetzt kamen die Gestalten in ihren Kutten die breite Straße

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