Brans Reise
seine Männer bauten Hütten und verlangten Steuern von den Inselbewohnern.« Jetzt stand Tir auf und trat in den Mittelgang. »Es war Winter, als die Vandarer kamen. Die Schiffe näherten sich im Schutz des Schneesturms. Vater und die anderen Männer ruderten hinaus, um zu kämpfen, doch die Vandarer waren zu zahlreich.«
Bran dachte noch immer daran, dass sie einem anderen Mann versprochen gewesen war. Er hasste diesen Mann, und es half auch nicht, dass er tot war. Doch jetzt kochte ein anderer Hass in ihm hoch, denn was sie erzählte, rief die Erinnerung an den Moment wach, in dem er sie zum ersten Mal in Sars Saal gesehen hatte. Auch den Inselkönig hasste er. Und dann fiel ihm wieder ein, dass sie von einer Flucht über das Meer gesprochen hatte, doch er wusste nicht mehr, wann oder wo sie das erzählt hatte. Hatte er das geträumt?
»Erzähl mir von deiner Flucht.« Er stand auf und zog sich seine Hose an.
»Ja«, sagte sie. »Ich bin geflohen. Als die Vandarer den Strand erreichten, rannte ich in den Wald. Ich kämpfte mich zur anderen Seite der Insel vor, denn da lagen die Fischerboote der Inselbewohner. In einem der Boote fand ich einen Seesack voller gegerbter Ziegenhäute. Ich schob das Boot aufs Meer und ruderte nach Norden.«
Tir band ihre Haare im Nacken zusammen. Sie starrte zwischen die Säulen, als spräche sie mit den Schatten. »Als die Insel nur noch ein glühender Rand hinter mir war, nähte ich die Leder mit einem Haken und einer Schnur zusammen. Dann segelte ich weiter nach Norden und versteckte mich auf der ersten Insel, die ich erreichte.«
»Du wurdest gefangen.« Bran zog den Gürtel fest. Ihre Worte schürten seine Kampfeslust.
»Ja.« Sie sah zu Boden und ließ die Schultern hängen. »Die Vandarer fanden mich schließlich. Aber sie haben mir nichts getan. Sie segelten mit mir nach Aard und verkauften mich an Sar.«
»Und Sar?« Bran trat zu ihr. Er musste es wissen. Er musste wissen, für was er töten sollte. »Was hat dir Sar angetan?«
Tir wandte sich ihm zu. Sie streckte ihm die Hände entgegen, und ihre Stimme, die so fest geklungen hatte, überschlug sich. Bran legte die Arme um sie und hielt sie fest.
»Sie haben mich geschlagen…« Sie zitterte und rang um die Worte, die sie so lange zurückgehalten hatte. »Die Wachen… sie brachten mich zu ihm… zu Sar. Er hat mich angefasst, aber ich habe ihn getreten!«
Einen Augenblick lang beruhigte sie sich, und Bran fuhr ihr mit der Hand über den Rücken. Er vermochte nichts zu sagen, denn ihr Schmerz schien direkt in seinen Körper zu fließen, so dass er ihn mit ihr teilen konnte.
»So ist mir am ersten Abend die Schmach erspart geblieben. Stattdessen haben sie mich mit ihren Speerschäften geschlagen. Auf die Fußsohlen, denn Sar wollte nicht, dass ich hässliche Wunden bekam.«
Bran lief es kalt über den Rücken. Nur allzu gut sah er all das vor sich. Sie mussten sie zu Boden gedrückt haben, und die eine Wache musste sie festgehalten haben, während die andere mit dem Speerschaft auf ihre Fußsohlen eingeschlagen hatte. Dann hatten sie sie in die Kammer geworfen, um dort auf Sars nächste Untat zu warten.
»Am nächsten Tag seid ihr gekommen. Das muss Cernunnos Wille gewesen sein.«
Es war ein seltsames Gefühl für Bran, sie festzuhalten, während sie ihr Gesicht an seinen Hals drückte und weinte. Während der ganzen Zeit in Tirga hatte sie so stark gewirkt. Erst gestern, als sie vor dem Götterbild niederkniete, hatte er ihre Unsicherheit bemerkt.
Plötzlich schob sie ihn von sich weg. Sie trat zur Tür, drehte sich um und sah ihn an.
»Es ist Zeit zu gehen«, sagte sie. »Ich gehe jetzt zum Hafen hinunter. Warte, ehe du mir folgst. Ich will nicht, dass Visikal uns gemeinsam die Straße herunterkommen sieht.«
Sie schlüpfte durch den Spalt der offenen Eichentür. Bran hörte, wie ihre Schritte nach unten verschwanden. Die Ledersohlen ihrer Sandalen strichen leicht über die Steine. Je mehr sich ihre Schritte entfernten, desto deutlicher hörte Bran auch die anderen Schritte auf der Straße und die Stimmen von Männern und Frauen. Er hörte die Befehle, die im Hafen gebrüllt wurden, und das Flattern von Segeln und Flaggen.
Bran zog sein Hemd an und stopfte es unter seinen Gürtel. Danach trat er in seine Stiefel und kniete neben seinem Umhang nieder. Er hob ihn auf und hielt sich den Stoff vors Gesicht. Ihr Geruch lag noch immer in dem Gewebe. Er roch wie ihr Haar, süß und warm, wie eine Mischung aus
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